Russland, Ukraine und Osteuropa

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Texte von Lutte de Classe - Klassenkampf - von Dezember 2023
Dezember 2023

Der Krieg und die Widersprüche einer vom Imperialismus beherrschten Welt

Der Krieg, der seit über eineinhalb Jahren in der Ukraine wütet, ist in dem Ausmaß der beteiligten Kräfte beispiellos seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In der Ukraine stehen sich Russland und die NATO gegenüber – ein gewaltiges Militärbündnis, das von den imperialistischen Großmächten angeführt wird. Allein diese Tatsache verleiht dem Krieg eine große internationale Bedeutung.

Auch wenn dieser Krieg formal mit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 begann, reicht seine Geschichte deutlich weiter zurück: mindestens bis zu den „Ereignissen auf dem Maidan“ im Februar 2014 in Kiew. Die Ablehnung einer korrupten, als pro-russisch dargestellten Regierung durch die Bevölkerung hatte pro-westlichen Kräften im Staatsapparat, in den Spitzen der Bürokratie und unter den ukrainischen Oligarchen Auftrieb gegeben. Mit dem Ergebnis, dass das Regime seine politischen Verbindungen zu Moskau abbrach und sich in die Arme des Westens warf.

Die Ukraine war die die zweitgrößte Sowjetrepublik gewesen, in Bezug auf die Größe der Bevölkerung, der Industrie und die Zahl ihrer Marinestützpunkte. Der dortige politische Umschwung war ein entscheidender Schritt in dem – seit dem Ende der UdSSR anhaltenden – Bestreben des Imperialismus, Russland immer weiter aus seiner Einflusssphäre zu verdrängen. Dieses Bestreben wurde nun gekrönt durch die Loslösung der Ukraine von Russland, mit dem sie neben der Sprache und zahlreichen menschlichen Bindungen auch eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte und eine größtenteils noch immer verflochtene Wirtschaft verband.

Der Kreml reagierte auf diesen Umschwung mit der Annexion der Krim und der Abspaltung der russischsprachigen Industrieregionen im Osten der Ukraine. Dies musste zwangsläufig ab 2014/2015 zu einem Krieg im Donbass und schließlich zu seiner Ausweitung auf das ganze Land führen.

Das von Paris und Berlin geförderte Minsker Abkommen zwischen Russland und der Ukraine zielte nicht auf eine Lösung des Konflikts ab, die in dieser Form ohnehin nicht möglich war. Es sollte – wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einigen Monaten zugab – den Kreml hinhalten, bis die NATO ihren neuen ukrainischen Verbündeten massiv aufrüsten konnte.

Der Krieg ist einerseits ein Produkt der Widersprüche, die in einer imperialistischen Weltordnung herrschen. Doch durch seinen von Anfang an internationalen Charakter und das Gewicht der Kriegsparteien in der Weltpolitik verstärkt er diese Widersprüche und enthüllt andere, die bislang unsichtbar geblieben waren.

Das zeigt sich sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene. Es zeigt sich in Russland und in der Ukraine. Doch es zeigt sich auch innerhalb des NATO-Lagers, unter Verbündeten, die jedoch gleichzeitig Rivalen sind und teilweise entgegengesetzte Interessen vertreten, weil jeder Staat die Interessen seiner eigenen Bourgeoisie vertritt.

Es zeigt sich unter anderem darin, wie NATO-Verbündeten miteinander rivalisieren in dem Versuch, sich bei der Ukraine und ihren Nachbarn zu „platzieren“: um ihnen Waffen zu verkaufen und Verträge über den Bau von Rüstungsfabriken mit diesen Ländern abzuschließen.

So erklärt der französische Verteidigungsminister Lecornu, dass dieser Konflikt „Chancen für die französische Rüstungsindustrie“ bietet. Noch mehr Chancen bietet er wahrscheinlich dem „Verbündeten“ USA, der die Hälfte der westlichen Militärhilfe für die Ukraine stellt und sich in einer guten Position befindet, um sich als erster Land und Unternehmen in der Ukraine (und nicht nur dort) unter den Nagel zu reißen. Die USA, die exklusiv die riesigen Rüstungsaufträge aus Polen erhalten, halten damit einen gewaltigen Trumpf in der Hand, um Deutschland den politischen und wirtschaftlichen Einfluss in seinem mitteleuropäischen Hinterland streitig zu machen.

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges wurden diesen Herbst auch Interessengegensätze zwischen einigen „kleinen“ und den „großen“ EU-Staaten deutlich.

Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen und die Slowakei hatten Anfang 2023 von Brüssel einen Exportstopp für ukrainische Agrarprodukte erwirkt, die per Bahn oder über den Landweg durch ihre Länder transportiert wurden. Sie erklärten, dass diese Agrarprodukte nicht zuletzt aufgrund der erbärmlich bezahlten ukrainischen Arbeitskräfte so billig seien, dass sie ihre „Kleinbauern“ ruinieren würden. Denn diese könnten mit einer solchen Konkurrenz nicht mithalten.

Es ist hier nicht der Ort, um darüber zu diskutieren, wie groß die Bedrohung wirklich war und wie viel davon auf die nationalistische und wahltaktische Demagogie der betreffenden Regierungen zurückzuführen ist. Tatsache ist jedoch, dass sich drei von ihnen im September weigerten, sich der Brüsseler Entscheidung zu beugen, als diese das Embargo auf ukrainische Agrarexporte aufhob.

Darüber hinaus kündigten Polen und die Slowakei an, dass sie als Vergeltungsmaßnahme keine Waffen mehr an die Ukraine liefern würden (Ungarn lieferte schon vorher keine Waffen). Der ukrainische Präsident beschuldigte seinen polnischen Amtskollegen, Moskau in die Hände zu spielen. Dabei hatten beide noch wenige Monate zuvor in Warschau die „ewige Freundschaft“ zwischen Polen und der Ukraine gefeiert.

Was die von Polen und der Slowakei angekündigte Verlangsamung der Waffenlieferungen an Kiew betrifft, so braucht man daran nicht – wie Selenskyj behauptet – die Hand Moskaus sehen. Zweifellos nutzen eher die USA Warschau, um Selenskyj in Zusammenhang mit der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen die Botschaft zu überbringen, die Biden nicht öffentlich aussprechen kann oder will.

Russische Bürokraten und Oligarchen

Der Krieg belastet auch Russland wirtschaftlich, politisch, militärisch und menschlich enorm.

Putin war Ende 1999 an die Spitze der Befehlspyramide der Bürokratie gelangt und hatte deren Effizienz und Schlagkraft zumindest in Teilen wiederhergestellt: seine berühmte „Vertikale der Macht“. Zum ersten Mal sieht er sich heute einer Situation gegenüber, in der seine Aura als (laut der Propaganda noch immer unangefochtener) Anführer ihn nicht mehr so sehr vor Kritik schützt.

In der Bevölkerung zeigte sich dies zu Beginn der Invasion in öffentlichen Anti-Kriegs-Protesten und, weniger sichtbar, in einer recht verbreiteten Weigerung, einen Bruderkonflikt zu billigen. Das Regime ging mit systematischer Repression gegen die Proteste vor – eine Repression, die auch weiterhin alle trifft, die den Krieg, seine Ziele und Folgen in Frage stellen.

Noch beunruhigender für das Regime ist jedoch, dass es unter denen, die in Russland als „Eliten“ bezeichnet werden, abweichende Stimmen gibt, und zwar in erster Linie unter den superreichen Oligarchen.

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Putin den Industrie- und Finanzmagnaten, die das Land durch Plünderungen in die Knie gezwungen und den Staat zu ihrem Spielball gemacht hatten, einen Deal aufgezwungen: Zahlt eure Steuern, mischt euch nicht mehr in die Politik ein und im Gegenzug lässt euch der Staat eure Geschäfte machen. Seitdem hatten sich die Oligarchen, von einigen Ausnahmen abgesehen, daran gehalten.

Im Laufe der Zeit haben sie Vermögen angehäuft und sich vermehrt. Sie haben außerdem zahlreiche Beziehungen zur westlichen Welt des kapitalistischen Jetsets geknüpft: geschäftliche Beziehungen, aber auch zu deren Lebensweise. Und sie streben vor allem danach, dass Nichts ihr goldenes Parasitendasein stört.

Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und der Invasion der Ukraine im Jahr 2022 mussten sie (ebenso wie eine ganze Reihe Würdenträger des Regimes und hochrangige Bürokraten) erleben, dass ihre Guthaben auf westlichen Banken eingefroren wurden, dass sie nicht mehr so frei Rohstoffe an die ganze Welt verkaufen konnten und, was nicht weniger wichtig ist, dass sie ihre Jachten in Monaco nicht mehr ansteuern und keine rauschenden Feste in ihren Schlössern in Frankreich oder ihren Villen in der Toskana feiern konnten.

Die heutigen Oligarchen haben aus der Erfahrung gelernt, insbesondere aus dem Schicksal Chodorkowskis, einst Russlands Oligarch Nr. 1, der zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und dessen Ölkonzern beschlagnahmt wurde, weil er glaubte, sich über die Forderungen des Kreml hinwegsetzen zu können. Sie haben es vermieden, gemeinsam und vor allem öffentlich gegen den Krieg Stellung zu beziehen. Einige Dutzend Oligarchen, die nicht genug aufgepasst hatten, bezahlten dies übrigens innerhalb weniger Monate mit ihrem Leben: Sie fielen einer mehr als verdächtigen Welle von Selbstmorden zum Opfer.

Im Moment sind Nawalny (im Gefängnis) und Chodorkowski (im Londoner Exil) die Sprecher der Bestrebungen eines Teils der russischen Gesellschaft, sich noch vollständiger in den Schoß der imperialistischen Welt zu begeben. Es ist noch keine politische Bewegung mit Verbündeten in den höchsten Kreisen des Staates, mit einem Projekt und einem Programm zur kapitalistischen Restauration, aber es ist ein Vorgeschmack darauf.

Vor diesem Hintergrund ist auch der Mini-Putsch eines Prigoschin im letzten Sommer zu sehen. Nicht, dass er das Regime wirklich bedroht und erst recht nicht erschüttert hätte. Der Versuch schien von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil er nur einen winzigen und randständigen Teil der russischen Streitkräfte betraf. Doch der Marsch von Wagners Panzern auf Moskau offenbarten die Spannungen und Brüche innerhalb des Regimes.

Denn der zum Milliardär gewordene Ganove Prigoschin war lange ein enger Vertrauter Putins gewesen und hatte vom Kreml freie Hand für militärische Missionen in Syrien, Afrika und der Ukraine erhalten. Er war in gewisser Weise eine Säule des Regimes, die die Seiten wechselte. Wochenlang wetterte er gegen die Art und Weise, wie Putin und sein Team den Krieg führten. Gleichzeitig versuchte er Gehör bei der Bevölkerung zu finden, indem er lautstark den Generalstab beschuldigte, die Soldaten nicht zu verpflegen und sie unbewaffnet in den Tod zu schicken.

Die Tatsache, dass Chodorkowski von London aus „das russische Volk“ dazu aufrief, Prigoschin zu unterstützen, konnte keine Wirkung haben. Aber es zeigt die Möglichkeit auf, dass der bisherige Protest sich mit höchsten Kreisen des Staatsapparates vereint, sollte der Staatsapparat in verschiedene rivalisierende Clans zerfallen und Teile der Oligarchie und sogar der Bürokratie das Bestreben entwickeln könnten, das gegenwärtige Regime zu erschüttern, wenn nicht gar loszuwerden.

Ein geschwächtes Russland in seinem „nahen Ausland“.

Trotz der anfänglichen militärischen Ungleichgewichts zwischen Russland und der Ukraine war der Kreml unfähig, einen Blitzkrieg zu führen. Stattdessen hat er sich in diesem Konflikt immer weiter festgefahren. Dies trug dazu bei, Russlands Position in seinem „nahen Ausland“ zu schwächen, sprich in den Ländern der ehemaligen UdSSR, die weiterhin wirtschaftliche und verteidigungspolitische Verbindungen zu Russland haben.

Schon Februar 2022 weigerten sich einige dieser Staaten, die russische Intervention in der Ukraine zu billigen oder missbilligten sie sogar. Dies war zum Beispiel in Kasachstan der Fall, obwohl Putins Spezialeinheiten dort gerade erst Präsident Tokajew und andere Führer der kasachischen Bürokratie vor einem Aufstand der Arbeiter und des Volkes bewahrt hatten, der die Profite der in Kasachstan ansässigen multinationalen Konzerne, insbesondere der Ölkonzerne, bedrohte.

Im Herbst dieses Jahres zeigte sich im ehemals sowjetischen Kaukasus eine weitere Folge davon, dass Russland im ukrainischen Sumpf feststeckt. Während Russland sich über Jahrzehnte als „Friedensrichter“ in den von verschiedenen kaukasischen Staaten umstrittenen Regionen etabliert hat und dort Truppen stationiert hat, mit denen es gewissen Status quo aufrechterhalten kann, blieb Russland tatenlos angesichts des Blitzangriffs Aserbaidschans auf Berg-Karabach – einer Region, die inmitten aserbaidschanischer Gebiete liegt, aber von Armeniern bewohnt wird.

Mitte September fühlte sich das von der Türkei und Israel bewaffnete Aserbaidschan stark genug, um sich auf Berg-Karabach zu stürzen und 120.000 dort lebende Armenier zu vertreiben. Baku „liquidierte“ auf diese Weise, was es als einen Abszess betrachtete, der in der auseinanderbrechenden UdSSR der 1990er Jahre entstanden war: die Umwandlung einer bis dahin autonomen, aber prinzipiell zu Aserbaidschan gehörenden Region in einen unabhängigen Staat.

Diese „ethnische Säuberung“ wird zwangsläufig ebenso tragische Folgen haben. Auf seinem Siegeszug kündigte Aserbaidschan bereits an, sein Territorium mit Nachitschewan verbinden zu wollen, einer aserbaidschanischen Provinz, die zwischen Armenien, der Türkei und dem Iran eingeklemmt ist. Dies würde weitere bewaffnete Auseinandersetzungen bedeuten. Denn um einen Korridor zwischen den beiden Gebieten zu schaffen, müsse es Armenien einen Teil seines Territoriums entreißen.

Vor dem Hintergrund der Schwächung und des Rückzugs Russlands werden im Kaukasus neue Allianzen gebildet, die zwangsläufig kriegerischer Natur sind: so das Bündnis zwischen Aserbaidschan und der Türkei, die ihren Einfluss ausweiten will. So das Bündnis zwischen Armenien und den USA, die dort Fuß gefasst haben, wie sie es bereits im benachbarten ehemals sowjetischen Georgien getan haben. Nicht zu vergessen Frankreich, das gerade als zweite Geige ein Verteidigungs- und Waffenlieferungsabkommen mit Eriwan geschlossen hat.

Eine solche Politik, die unter der Ägide des Imperialismus und vor dem Hintergrund interimperialistischer Rivalitäten betrieben wird, kann die nationale Frage nur noch weiter anheizen, die nur die Oktoberrevolution von 1917 auf die demokratischste Weise für die vielen Völker, die seit Jahrhunderten eng verflochten in dieser Region leben, zu lösen versucht hatte. Aber das wird zweifellos den Geschäften der französischen, amerikanischen, türkischen, israelischen und anderen Rüstungskonzernen entgegenkommen, für die Kriege jene „Chancen“ sind, die Lecornu anpreist.

Westliche Sanktionen und ihre Auswirkungen

Am 5. Oktober erklärte Putin auf dem Valdai International Forum – einem Davos der Armen, das seit 20 Jahren in Russland stattfindet –, dass die internationalen Sanktionen Russland weniger geschadet als genutzt hätten. Die Sanktionen hätten das Land gezwungen, seine Wirtschaft zu diversifizieren, um Embargos und Handelsstörungen zu überwinden.

Putin behauptet dies seit 2014, als die USA und die Europäische Union die ersten Sanktionen gegen Russland beschlossen, das die Krim zurückerobert hatte. Dies ist Teil der üblichen großspurigen Reden, die der Chefs der russischen Bürokratie gegenüber dem Imperialismus führt. Hinzu kommt, dass Putin sich im März nächsten Jahres wieder zum Präsidenten wählen lassen will und daher bestrebt ist, eine positive Bilanz seiner „Sonderoperation“ zu ziehen. Denn sie hat ihm nicht den Blitzsieg gebracht, dessen er sich hätte rühmen können. Im Gegenteil, zwanzig Monate später wird der russischen Bevölkerung ebenso wie ihrer ukrainischen Schwester zunehmend bewusst, dass dieser Krieg noch lange nicht zu Ende ist. Dies wird regelmäßig von westlichen Politikern und insbesondere von US-Generälen bestätigt.

Dennoch stellen Beobachter fest, dass Russland dem Druck der eskalierenden NATO-Kriegsführung besser standgehalten hat als erwartet. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung EBWE (die 1991 gegründet wurde, um den ehemaligen Volksdemokratien und der ehemaligen UdSSR die Umstellung auf marktwirtschaftliche Verhältnisse zu erleichtern) gab Anfang Oktober bekannt, dass sie für Russland in diesem Jahr mit einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 1,5% rechnet, obwohl sie zunächst einen Rückgang prognostiziert hatte. Im Gegensatz dazu bestätigte die EBWE ihre Prognose, dass das BIP der Ukraine um 30 Prozent sinken würde.

Die relative Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft trotz des Krieges und trotz des starken Rückgangs der Öl- und Gasexporte und damit der Deviseneinnahmen beruht auf einer Reihe von Faktoren.

Russland hat es geschafft, einige der Embargos, denen es unterliegt, zu umgehen. Ein weiterer Faktor ist, dass europäische und amerikanische Unternehmen, darunter auch multinationale Konzerne, trotz der kriegerischen Haltung ihres Staates den russischen Markt und die damit verbundenen Gewinne nicht aufgeben wollen.

Hinzu kommt, dass die russische Wirtschaft mit ihren riesigen Betrieben im militärisch-industriellen Komplex und im Energiesektor, die in staatlicher Hand sind, besser für die materiellen und menschlichen Belastungen des Krieges gerüstet war – was eine entfernte Folge der staatlichen Planwirtschaft der Sowjetzeit ist. Dies verschaffte ihr einen klaren Vorteil gegenüber der ukrainischen Wirtschaft. Die ukrainische Wirtschaft ist natürlich durch den Krieg verwüstet. 20% ihrer Industrieanlagen sind zerstört oder beschädigt. 25% ihrer Beschäftigten sind ausgewandert, aus den Kampfgebieten geflohen oder wurden an die Front geschickt. 17,5% des Landes sind besetzt, darunter auch Industrie- und Bergbaugebiete. Doch schon vor diesem Krieg litt die ukrainische Wirtschaft seit Jahren unter den zerstörerischen Folgen der Tatsache, dass der ukrainische Staat die Hindernisse für das Eindringen westlichen Kapitals beseitigt hatte.

Krieg gegen die Nachbarn und die eigene Bevölkerung

Die gute Entwicklung der russischen Wirtschaft ist jedoch nur relativ. Hunderttausende wurden zusätzlich zur regulären Armee in die Ukraine geschickt, entweder per Einberufungsbefehl oder weil sie sich vertraglich verpflichtet haben. Außerdem sind über eine Million, vor allem beruflich höher qualifizierte Männer ins Ausland geflohen, um einer möglichen Einberufung zuvorzukommen. All das hat die Unternehmen unter Druck gesetzt. Im Juli gaben 42% der Unternehmen an, dass ihnen Arbeitskräfte fehlen.

Das Phänomen hat sich seitdem noch verschärft, denn nun ist auch noch ein Teil der zahlreichen Migranten aus dem ehemaligen sowjetischen Zentralasien weg, die im Baugewerbe, im Dienstleistungssektor und in der Industrie arbeiten. Hauptsächlich, weil die Militärbehörden die Migranten dazu drängen, sich für den Krieg zu verpflichten und ihnen im Gegenzug die russische Staatsangehörigkeit versprechen. Ein zweiter Grund für ihren Weggang ist, dass der Rubelkurs sinkt und sie daher nicht mehr genug Geld nach Hause schicken können.

Der Verfall des Rubels geht einher mit einem Anstieg der Inflation, den die Zentralbank durch eine immer weitere Erhöhung des Leitzinses zu bremsen versucht. Dies wirkt sich nicht nur negativ auf die Wirtschaftstätigkeit aus, sondern schmälert auch die Kaufkraft von zig Millionen Arbeitenden und Rentnern, die bereits unter der starken Verteuerung vieler Import-Waren leiden. Denn diese werden zwar auch weiterhin aus dem Ausland importiert, müssen nun aber einen teuren Umweg über China, die Türkei oder Indien nehmen.

Bei bestimmten Berufsgruppen, z. B. Pflegekräften, kommen – unfreiwillige – Lohnabzüge hinzu, um der Armee „zu helfen“. Und die Duma hat gerade den Grundsatz beschlossen, dass alle Staatsbediensteten 2% ihres Lohns „freiwillig“ für die Kriegsanstrengungen abgeben sollen.

Während Millionen von Russinnen und Russen in die Armut rutschen und ein hochoffizielles föderales Register eine Million von ihnen als zahlungsunfähig ausweist, versucht das Regime den Anschein zu erwecken, dass es gegen Kriegsgewinnler vorgeht. In Wahrheit jedoch kümmert er sich in erster Linie um die Belange der Reichsten: der hohen Bürokraten und Oligarchen. Das russische Wort für Beamter ist mit Korruption verbunden, und diese floriert im Krieg.

In der Ukraine handelt Selenskyj nicht anders. Er hat seinen Verteidigungsminister und sechs seiner Vize-Minister wegen Korruption entlassen und einige Oligarchen vor Gericht gestellt. Das hat für Aufsehen gesorgt. Doch es ist nicht das erste Mal. Und es könnte sein, dass die Justiz wie bei den vorherigen Malen die Angeklagten freispricht oder ihnen nur lächerliche Geldstrafen auferlegt.

Die Behörden stellen fest, dass es in der Bevölkerung eine dumpfe Unzufriedenheit gibt, mit der Korruption des Regimes auf allen Ebenen sowie mit den Razzien auf der Arbeit, in den Straßen und Öffentlichen Verkehrsmitteln, bei denen nach Arbeitern und Jugendlichen gefahndet wird, die zum Kanonenfutter bestimmt sind. Kiew versucht, sich angesichts des Krieges den sozialen Frieden zu erkaufen und hat dafür eine Anhebung der Löhne angekündigt. Die Löhne bleiben allerdings in jedem Fall miserabel. Kein Vergleich mit dem, was hohe Bürokraten wie der neue Direktor der Ukrsalisnyzja (der Ukrainischen Eisenbahn) bekommen: ein Gehalt von 9 Millionen Hrywnja (234.500 Euro) und „nur“ 5,6 Millionen Hrywnja für seine Stellvertreter und die sieben Mitglieder des Verwaltungsrats.

Der Kreml seinerseits „spendiert“ denen, die sich freiwillig zum Kriegsdienst verpflichten, Gehälter in dreifacher Höhe des Durchschnittslohns. Und wenn derjenige im Kampf fällt, zahlt der Staat eine Entschädigung von rund 9.000 Euro. Die besonders benachteiligten Gegenden und sozialen Schichten sollen sich zufrieden geben mit diesem „Lohn der Angst und des Todes“ für diese zum Tode Verurteilten, deren Urteil nur noch nicht vollstreckt wurde. Zwar betont Putin immer wieder, dass er eine allgemeine Mobilmachung ablehnt. Aber gleichzeitig zwingt er Hunderttausende Männer, sich in die Rekrutierungsbüros zu begeben, um dort ihre militärischen und zivilen Daten zu aktualisieren. Letztlich sind sie alle Verurteilte, deren Urteil nur bislang nicht vollstreckt wurde.

Arbeiterfeindliche Regime, jedes auf seine Weise

Es ist daher nicht verwunderlich, dass auf rund 100 dieser Rekrutierungsbüros Brandanschläge verübt wurden. Sie werden als Terrorakte eingestuft. Die oftmals sehr jungen Täter werden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, wenn sie erwischt werden. Dasselbe gilt für die zahlreichen „Anschläge auf die Bahn“, die die Gerichte verzeichnen. Darunter fällt bereits, wenn einfach nur ein Flugblatt oder ein Anti-Kriegs-Schild auf oder neben den Gleisen abgelegt wird.

Das Putin-Regime hat zwar die wochenlangen Antikriegsdemonstrationen im Februar und März 2022 beendet und erreicht, dass einige der demokratischen Oppositionellen ins Exil gehen, um nicht verhaftet zu werden. Aber es ist ihm nicht gelungen, jede Form der Opposition zu unterdrücken, auch wenn sie hauptsächlich individuell ist und schnell unterdrückt wird.

Das Selenskyj-Regime hat bereits vor Kriegsbeginn linke Organisationen verboten. Es unterdrückt weiterhin alles, was sich auf den Kommunismus, Sozialismus und Klassenkampf beruft. Es profitiert sogar davon, dass sich einige Strömungen, die sich als linksradikal bezeichneten, auf sozialchauvinistischer Basis dem Regime angeschlossen haben.

Trotz der zunehmenden Unterschiede zwischen dem russischen und dem ukrainischen Regime, die beide aus der poststalinistischen Bürokratie hervorgegangen sind und trotz der Tatsache, dass sie sich auf entgegengesetzten Seiten wiederfinden (die Ukraine befindet sich im Lager des Imperialismus, der seit Jahrzehnten versucht, Russland aus dessen Einflussgebiet zu verdrängen), verhalten sich Moskau und Kiew gegenüber ihren Bevölkerungen ähnlich.

Während sie vorgeben, sie gegen die andere Seite zu verteidigen, führen das russische und das ukrainische Regime einen sozialen Krieg gegen ihre Bevölkerung und verschärfen damit einen Klassenkrieg, der nicht erst seit Februar 2022 besteht. In diesem Klassenkrieg kämpfen die Erben der stalinistischen Bürokratie (die hohen Bürokraten und ihre Oligarchen-Kumpel, jene Industrie- und Finanzmagnaten, die ihr Vermögen durch die Plünderung der verstaatlichten Wirtschaft nach dem Zusammenbruch der UdSSR erwirtschaftet haben) gegen die Arbeiterklasse. Zu diesen Raubtieren kommen in der Ukraine noch die amerikanischen und westeuropäischen Kapitalisten hinzu, die das Land immer stärker im Griff haben.

Die russische und die ukrainische Regierung verteidigen, jede auf ihre Weise, die parasitären Klassen und sozialen Schichten, die ihr Land beherrschen, und einen bis ins Mark korrupten Staatsapparat, der im Krieg ein neues und schnelles Mittel gefunden hat, um sich auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern.

Es geht nicht darum, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen, wie es einige Strömungen der extremen Linken manchmal mehr oder weniger schamhaft tun. Es geht darum, in diesem Krieg die Interessen der ukrainischen und russischen Arbeiter zu verteidigen, der internationalen Arbeiterklasse gegenüber ihren Ausbeutern, ihren Unterdrückern, die man mit ihren Generälen auf den Schlachtfeldern, in den Hinterzimmern der diplomatischen Kanzleien und auf den Fernsehbildschirmen am Werk sieht.

Es ist unerlässlich, dieses Programm zu verteidigen – in einer Zeit, in der das Säbelrasseln von einem Ende der Welt bis zum anderen immer lauter wird. Aber um es zu verteidigen, braucht die Arbeiterklasse eine revolutionäre kommunistische Partei und eine Internationale, die diesen Namen verdient, wie es die Kommunistische Internationale zu Zeiten Lenins und Trotzkis war. Weder diese Partei noch diese Internationale existieren. Weder in Russland noch in der Ukraine oder anderswo. Für Aktivisten, die das imperialistische System stürzen wollen sowie die Diktaturen, die zwar die Imperialisten herausfordern, aber im Grunde doch ihre Komplizen sind, besteht die dringendste Aufgabe darin, sich an den Aufbau dieser Partei und dieser Internationale zu machen.

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Die Arbeiter haben kein Vaterland!

Der Hauptfeind steht in unserem eigenen Land!

 

13. Oktober 2023