Das Völkerrecht und der Nationalismus (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - Februar 1976)

Drucken
Das Völkerrecht und der Nationalismus
Februar 1976

Nachdem die Westsahara die Unabhängigkeit erlangt hat, wird es nicht ausgeschlossen sein, dass ein Krieg Algerien und Marokko in der Sahara einander gegenüberstellt, so wie das kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens der Fall war, nur dieses Mal mit ernsteren Folgen.

Welche Position sollte man in solch einem Konflikt einnehmen? In Frankreich arbeiten zahlreiche Algerier und Marokkaner und mancherorts haben die Spannungen zwischen den beiden Gemeinschaften mit den Ereignissen in der Sahara zugenommen. Es handelt sich also keineswegs um eine abstrakte Frage.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der politischen Unabhängigkeit vieler ehemaliger Kolonien hat man solche Konflikte entstehen sehen. Früher kam es wegen der kolonialen Vormundschaft entweder gar nicht erst zu solchen Kriegen, oder aber sie nahmen die Form von Konflikten zwischen imperialistischen Mächten beziehungsweise zwischen einer imperialistischen Macht und einem unterentwickelten Land an. In diesem Fall war die Position der Revolutionäre klar.

Doch seit dreißig Jahren kann der Standpunkt der Revolutionäre als weitaus komplizierter erscheinen. Diese Konflikte stellen heute für die revolutionären Aktivisten und besonders für die proletarischen Organisationen der imperialistischen Länder politische Probleme dar, deren Formen nicht gänzlich, aber doch relativ neu sind.

Tatsächlich haben sich seit dem Anwachsen des Nationalismus viele Konflikte ereignet oder haben gedroht, bei denen der Imperialismus keine direkte Rolle spielte. Auch wenn der Ursprung des Konfliktes im imperialistischen Erbe lag oder wenn die ehemaligen imperialistischen Mächte die Antagonismen künstlich hervorgerufen hatten. Diese Situationen können viel länger überleben als diejenigen, die sie geschaffen haben, sie eigentlich brauchen (etwa im Falle Portugals und Angolas).

Diese Konflikte sind so zahlreich gewesen, dass es nur schwer möglich wäre, eine vollständige Liste zu erstellen. Als etwa Großbritannien 1947 seinem Indischen Reich die Unabhängigkeit gewährte, teilte es Hindus und Muslime in zwei unabhängige Staaten, Indien und Pakistan. Das verursachte einen schrecklichen Bürgerkrieg und schuf zwei künstlichen Staaten, die jahrelang verbissene Feinde waren. Pakistan wurde übrigens einige Jahre später selbst zum Schauplatz eines Bürgerkrieges, in dem sich sein westlicher und östlicher Teil mit ihren gänzlich verschiedenen Bevölkerungen, die 1947 vom britischen Imperialismus willkürlich vereint worden waren, gegenüberstanden.

Ähnliches ereignete sich in zahlreichen Regionen Afrikas, wo der Imperialismus nach seinem Abzug aus freien Stücken und aus Berechnung eine unüberwindbare Situation zurückließ. Denken wir nur an den Konflikt in Biafra, die Katanger Abspaltung kurz nach der Unabhängigkeit von Belgisch-Kongo (heute Zaire) oder die Beziehungen zwischen Äthiopien und Eritrea. Die Situationen sind nicht immer identisch, aber die Probleme sind die gleichen.

Doch was immer auch die Verantwortung der ehemaligen Kolonialmächte in der Entstehung dieser Konflikte sein möge, es stellt sich die Frage, ob die Revolutionäre in einem Krieg zwischen zwei unterentwickelten Ländern oder in einem Bürgerkrieg zwischen unterschiedlichen Volksgruppen Stellung beziehen sollen, beziehungsweise auf wessen Seite sie sich schlagen sollen. Nach welchen Kriterien sollen sie sich entscheiden?

Für die Revolutionäre ist es wesentlich, eine Verhaltenslinie festzulegen, die sich auf die jeweilige Situation bezieht und gleichzeitig die Interessen der sozialistischen Revolution schützt und verteidigt. In letzter Instanz geht es schließlich darum, die Bewusstseinsebene der Arbeiter sowohl in den betroffenen als auch in den imperialistischen Ländern zu erheben.

In einem Konflikt zwischen imperialistischen Mächten und der Führung eines unterentwickelten Landes müssen die Revolutionäre letzterer ihre vollständige und bedingungslose körperliche und moralische Unterstützung zukommen lassen. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie die Politik dieser Führung in irgendeiner Weise anerkennen oder dass die Revolutionäre dieses Landes in irgendeiner Weise an der Regierung beteiligt sind.

Trotzki schrieb über einer ähnliche Situation: "Unsere Aufgabe verwirklichen wir nicht (...) mittels bürgerlicher Regierungen (...), sondern ausschließlich durch die Erziehung der Massen, durch Agitation". Trotzkis Aussage verurteilt also all jene, die im vietnamesischen Konflikt glaubten, sie müssten die Politik der Provisorischen Revolutionären Regierung (PRR) Südvietnams ohne Einschränkung billigen und die PRR als Regierung eines sozialistischen Staates anerkennen, um sie unterstützen zu können.

Aber der Imperialismus ist in diesen Konflikten nicht immer direkt präsent. Er kann aber auch auf beiden Seiten vorhanden sein, und dabei kann es sich um dieselben oder verschiedene Imperialismen handeln. Zusätzlich kann sich der Imperialismus als Verteidiger einer nationalen, ethnischen oder religiösen Minderheit präsentieren, die im jeweiligen unabhängigen Land tatsächlich schrecklicher Unterdrückung ausgesetzt ist. Dies war etwa im Kongo, in Biafra und bis zu einem gewissen Grad in Angola oder vielleicht auch in Eritrea der Fall.

Revolutionäre treten für das Recht der Völker ein, über sich selbst zu bestimmen, auch wenn das in manchen Fällen bedeutet, imperialistische Interessen zu unterstützen. Revolutionäre treten auch dann für das Recht der Völker auf Selbstbestimmung ein, wenn sich der Imperialismus wie in den oben genannten Beispielen auf soziale Wirklichkeiten und ethnische Ungerechtigkeiten stützt, die er manchmal selbst verursacht oder unterstützt hat, um nun einen Staat anzugreifen, dessen politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit ihn stört und dem er einen Teil bzw. die gesamten Reichtümer seines Bodens und Untergrundes entziehen will (z.B. Minen in Katanga, Öl in Biafra, Jute in Bangladesch, usw.).

Es handelt sich hier oft um verworrene und immer um dramatische Situationen. Aufgabe der Revolutionäre ist es, den Arbeitern aller Länder zu lehren, dass diese verworrenen Situationen aus Nationalismus entstehen, der eine blutige Falle für die Völker darstellt.

Die sozialistischen Revolutionäre sind keine Nationalisten. Ganz im Gegenteil: Sie sind Internationalisten. Sie treten nicht für kleine Staaten mit einer notgedrungen beschränkten und zerstückelten Wirtschaft, sondern für Verbände von Teilen von Kontinenten oder sogar von ganzen Kontinenten ein.

Die Tatsache, dass nationalistische Bestrebungen seit dreißig Jahren zunehmen, bedeutet nicht, dass Nationalismus die Zukunft ist und Internationalismus überholt ist. Tatsächlich stellt der Aufstieg des Nationalismus keinen Erfolg dar, sondern führt in eine Sackgasse. Die Zunahme nationalistischer Tendenzen öffnet nicht den Weg in die Zukunft, sondern stellt nur einen Nachhutkampf dar. Die Konflikte, die daraus entstehen, zeigen es deutlich.

Unsere Epoche ist nicht mehr diejenige von Mikrostaaten, die auf kleinen Territorien dem Druck des Imperialismus entgehen wollen, indem sie verzweifelt versuchen, Mikrowirtschaften aufzubauen. Der Imperialismus hat eine Marktwirtschaft auf weltweiter Ebene geschaffen. Nur Länder, die so groß wie ganze Kontinente sind, können sich wenigstens etwas dem Niveau dieser Wirtschaft annähern.

Aus diesem Grund können die Revolutionäre nicht kampflos zusehen, wie das Proletariat dieser Länder, auch wenn es zahlenmäßig schwach ist, sein Los und das Schicksal des ganzen Volkes in die Hände der Nationalbourgeoisie legt. Das gilt auch dann, wenn es sich um eine von den städtischen Intellektuellen oder eine von den Offizieren und Unteroffizieren einer prätorianischen Armee repräsentierte Bourgeoisie handelt. Auch angesichts einer jakobinischen Bourgeoisie, die sich als liberal, anti-imperialistisch und sogar sozialistisch oder kommunistisch hinstellt, liegt der Fall nicht anders. Das wichtigste Kriterium bleibt der Internationalismus anstelle des Nationalismus.

Das zweite Kriterium ist die Demokratie für die Arbeiter und die Bauern, das heißt die Natur des Staates. Bei einem bürgerlichen Staat handelt es sich immer um eine Diktatur des Apparates, also der Diktatur einer Partei, einer Armee oder, wie es meistens der Fall ist, beider. Selbst wenn diese Diktatur über die Zustimmung des Volkes verfügt, handelt es sich nicht um eine Demokratie für die Ausgebeuteten. Es handelt sich um keine wirkliche Demokratie. Das sich aus diesem System ergebende Regime kann den eventuell vorhandenen ethnischen oder religiösen Minderheiten nicht gestatten, sich frei auszudrücken und auch als Minderheit an der Machtausübung beteiligt zu sein. In der Folge kommt es gezwungenermaßen zu rassistischer oder/und religiöser Unterdrückung. Das erlaubt schließlich den Eingriff des Imperialismus.

Wir müssen klar sagen, dass Nationalismus nicht unsere Politik ist. Folglich dürfen wir nicht zulassen, dass die Arbeiter, wo immer sie auch sind, in die Fallen des Nationalismus gehen, egal ob dieser vorherrscht, nur noch dahinvegetiert oder unterdrückt.

Nicht die Proletarier haben diesen Weg gewählt. Sie dürfen sich nicht mit den Misserfolgen konfrontiert sehen, zu denen er führt.

Revolutionäre können in diesen offenen oder verschleierten Konflikten zwischen den Führungen unterentwickelter Länder oder zwischen den Führungen und ihren eigenen nationalen Minderheiten nur eine Haltung einnehmen.

Zuerst geht es darum zu erinnern und zu erklären, dass die nationalistische Bourgeoisie und die nationalistische Politik keinerlei Zukunftsperspektive bieten, auch nicht den Völkern der unterentwickelten Länder.

Die nationalistische Politik ermöglicht die rechtliche Befreiung vom Imperialismus. Sie kann ihn jedoch nicht zerstören. Allein der internationale Kampf aller Arbeiter wäre dazu imstande.

Die Nationalbourgeoisie kann nicht auf demokratische Weise regieren; ihre Herrschaft führt zwangsweise zu Problemen mit den ethnischen oder religiösen Minderheiten. Es handelt sich dabei um Probleme, die die Völker dazu bringen, andere zu unterdrücken und dabei selbst nicht frei zu sein. Genau diese Probleme ermöglichen es dann auch dem Imperialismus, diese Länder unter seiner wirtschaftlichen Herrschaft zu behalten, sei etwa durch den Verkauf von Kriegsmaterial, der zur vollständigen Zerstörung des Landes führt.

Die Revolutionäre müssen den Umsturz dieser Regierungen und ihren Ersatz durch auf Arbeiter und Bauern basierende Regime verkünden. Nur jene Regime, die die Demokratie der arbeitenden Klassen verwirklichen, können die einander feindlich gesinnten ethnischen Minderheiten in begeisterte Verbündete verwandeln.

Nur Regierungen der Arbeiter und der Bauern würde es gelingen, aneinandergrenzende und oft von denselben Völkern bewohnte Staaten zu verbünden. In Angola, Nigeria oder der Sahara etwa wurden die Grenzen in einem tragisch-komischen Prozess von den Kolonialmächten gezogen.

Allein die sozialistischen, revolutionären und internationalistischen Arbeiter werden sich davon befreien können, um die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Maghreb, die Vereinigten Sozialistischen Staaten Zentral- oder Westafrikas und die Vereinigten Sozialistischen Staaten Südostasiens zu schaffen.

Natürlich handelt es sich hierbei um eine politische Perspektive, um Grundsätze, die nicht unbedingt klarstellen, auf welche Seite man sich nun am Vorabend eines bewaffneten Konflikts stellen soll. Die sozialistische Revolution selbst mag besonders in manchen dieser Länder fern scheinen.

Doch vielleicht ist es ein Irrtum, so zu denken. Es wäre jedenfalls ein schwerer Fehler, den Kampf für eine sozialistische Revolution aufzugeben und unsere Ziele und Grundsätze unter dem Vorwand eines eskalierenden Konfliktes zwischen zwei unterentwickelten Ländern nicht mehr lauthals zu verkünden.

Denn der Weg der Revolutionäre ist klar: Es geht darum, die vorhergehende Politik offen zu verkünden und bedingungslos für sie zu kämpfen. Dabei werden die Revolutionäre von dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung geleitet.

Ein Volk, das ein anderes unterdrückt, ist kein freies Volk. Davon sind wir heute mehr denn je überzeugt.

Wir sind immer auf der Seite des unterdrückten Volkes (oder Ethnie), auch wenn der Unterdrücker nicht imperialistisch ist.

Aber noch einmal: Dabei führen wir eine revolutionäre und internationalistische Politik. Im Namen des Internationalismus kämpfen wir für die sozialistische Revolution und für Bundesstaaten. Unsere Unterstützung bürgerlicher Gruppen bedeutet jedoch keine Beteiligung. Es mag sich um militärische Unterstützung, jedoch niemals um politische Bürgschaft handeln.

Wenn der Imperialismus ins Spiel kommt, mag es natürlich erscheinen, als wäre unsere Unterstützung bestimmter ethnischer Gruppen oder bestimmter Länder problematisch. Doch der Schein trügt. Die nationalistische Politik ist für das Chaos verantwortlich. Sie ist es auch, die bekämpft werden muss.

Die einzige Sache, die sorgfältig geprüft werden muss, ist die Realität der nationalen Unterdrückung, die Existenz einer populären Opposition. Das leitet uns. Wir sind nicht für andere nationalistisch: Ein Volk kann ein anderes Regime als sein eigenes wählen. Ausländische Truppen können sich gegen das Volk in einem Land einrichten, doch manchmal auch mit Zustimmung der Bevölkerung.

Genau das ist es, was wir untersuchen müssen und was bestimmen wird, wem die Unterstützung der Revolutionäre zukommen wird.

Aber wir werden uns keinesfalls von einer Argumentation vereinnahmen lassen, die auf den wirtschaftlichen und geographischen Interessen eines Landes beruht, das diese Interessen durch Gewalt an einem anderen Volk bewahrt.

Das ist der eigene Schaden der marokkanischen Bourgeoisie, wenn die marokkanische Wirtschaft die Phosphat-Bergwerke der Westsahara zum Überleben braucht. Die Revolutionäre können nur die Rechte der Sahara-Bewohner schützen und das, obwohl die Algerier ihre Hand im Spiel haben. Das wäre auch der Fall, wenn die Sahara-Bewohner von einer imperialistischen Macht unterstützt werden würden.

Dagegen werden wir sicher nicht die Unabhängigkeit des Regimes von Ali Aref und seinen Unterstützern verteidigen, wenn Somalia diesen Strohmann des französischen Imperialismus angreift und damit den Wunsch der großen Mehrheit der Bürger Dschibutis erfüllt.

Wir können nichts dafür, wenn die nationalistische Politik des Sultans von Marokko die Sahara-Bewohner davon abhält, sich einer größeren Einheit einzugliedern.

Wir kämpfen für sozialistische Regime, die es allen Völkern und allen Ethnien erlauben werden, sich zu entfalten, auch denjenigen, die nur von einer Handvoll Menschen vertreten werden.

Der Nationalismus verbaut jede Entwicklungsmöglichkeit für die Zukunft der Menschheit, während der internationalistische Sozialismus das Zusammenlegen aller wirtschaftlichen Reichtümer der Erde ermöglichen wird. Er wird erlauben, dass alle Menschen frei leben.