Bolsonaro, eine faule Frucht der brasilianischen Krise (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - vom November 2018)

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Bolsonaro, eine faule Frucht der brasilianischen Krise
November 2018

Bolsonaro wurde im zweiten Wahlgang der brasilianischen Präsidentschaftswahl mit 55 % der Stimmen gewählt. Er wird am 1. Januar als Präsident von Brasilien eingeführt. Noch vor wenigen Monaten war er nahezu unbekannt. Warum haben ihn dutzende Millionen Brasilianer gewählt? Was erhoffen sie sich von ihm? Was ist sein Programm und wie wird seine Politik sein?

Der späte Aufstieg eines farblosen Politikers

Bolsonaro hat nichts an sich, dass ihn für seinen aktuellen Erfolg vorherbestimmt hat. Mit seinen 63 Jahren hat er nichts Bemerkenswertes getan. 1977 verließ er die Militärschule, er hatte ein paar Scherereien mit seinen Vorgesetzten, weil er höhere Gehälter verlangte. 1988 wurde er in den Stadtrat von Rio gewählt, er verließ die Armee mit dem niedrigen Dienstgrad eines Mannschaftsführers. Seit 1990 ist er Bundesabgeordneter. Er war ein Abgeordneter, der nicht von sich reden machte, repräsentativ für das Fußvolk der Bundesversammlung - einer von denen, die man den "niederen Klerus" nennt. Wie viele andere ist er keiner Partei treu geblieben. Im Rahmen seiner sieben Mandate hat er sieben verschiedenen Parteien angehört, allesamt rechten Parteien.

Weit davon entfernt, von Anfang an ein Feind von Lulas Arbeiterpartei zu sein, war er für sie von 1999 bis 2010 in der Bundesversammlung eine Art Weggefährte. Er sprach von "unserem teuren Lula", stimmte für ihn bei den Präsidentschaftswahlen.

Erst zu Beginn dieses Jahres ist er der sozialliberalen Partei beigetreten, die ihn als Kandidaten für die Senatswahlen aufgestellt hat. Er war nicht in die finanzpolitischen Skandale verwickelt, die nicht wenige Abgeordnete des Senats betrafen. Das heißt aber nicht, dass er nicht von Konzernen finanziert worden ist. Als er in der Volkspartei war, hat er zum Beispiel 200.000 Real von JBS erhalten, einem der weltweit bedeutendsten Fleisch- und Lebensmittelkonzerne. Aber er hat diese Summe an seine Partei weitergegeben, die sie ihm sofort zurückgegeben hat, um seinen Wahlkampf zu finanzieren. Formal wurde er also nicht von JBS finanziert. Außerdem hat er, wie zahlreiche brasilianische Abgeordnete, die Politik wie ein Familiengeschäft betrieben: einer seiner Söhne ist Parlamentsabgeordneter, der zweite Bundesabgeordneter und der dritte Stadtrat.

Dieser farblose Abgeordnete hatte zwar einige Schwierigkeiten mit der Ethik-Kommission der Bundesversammlung wegen frauenfeindlicher und homophober Äußerungen. Doch er ist nicht aus der Anonymität herausgetreten vor der Abstimmung am 31. August 2016 über die Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei. Er stimmte für ihre Absetzung, wie drei Viertel seiner Kollegen. Mit dem Unterschied, dass er seine Stimme dem Oberst Ustra weihte, dem bekanntesten Folterknecht während der Militärdiktatur (1964-1985). Er erklärte sich genau in dem Moment zum Verteidiger der Militärdiktatur, als in den Demonstrationen einige extremistische Gruppen sich auf sie zu berufen begannen.

Seine Persönlichkeit hat sich anschließend mehr und mehr offenbart. Er hat immer mehr rassistischen Äußerungen gegen Schwarze und Indianer von sich gegeben. Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, um gegen Frauen und gegen Homosexuellen Stellung zu beziehen. Er hat die Armen angegriffen, die sich vom Staat durchfüttern lassen würden.

Er hat die Unsicherheit und das Banditentum angeprangert und den Regierungen vorgeworfen, sie nicht bekämpft zu haben. Kurzum, im Namen von Gott, Vaterland und Familie hat er alle Plattitüden wieder aufgenommen, die dem weißen, wohlhabenden, konformistischen Kleinbürgertum teuer sind. Er hat eine Gruppe sehr aktiver Anhänger in den sozialen Netzwerken gewonnen, die nicht zögern, Facebook oder WhatsApp mit Falschmeldungen zu bombardieren, um ihn aufzuwerten oder seine Gegner zu diskreditieren.

Der Wahlkampf hat ihn in den Vordergrund gerückt. Der Kandidat der Arbeiterpartei, der ehemalige Präsident Lula (2003-2010) lag in den Meinungsumfragen weit an der Spitze. Jedoch wurde er wegen Korruption verhaftet und ihm wurde letzten Endes verboten zu kandidieren. Die Stars der großen rechten Parteien hatten ebenfalls Schwierigkeiten mit der Justiz und teilten den Misskredit der Arbeiterpartei. Sogar diejenigen, die nicht mit ihr zusammen regiert haben.

Bolsonaro hatte dabei Unterstützung der evangelischen Freikirchen. Reich, im gesamten Land verbreitet und in der Nationalversammlung stark vertreten, sind diese Kirchen eine mächtige Lobby, die im reaktionären Sinne wirkt. Sie verteidigt die Familie: die patriarchale, autoritäre Familie, die die Frauen und die Kinder gut im Griff hat. Feminismus und Homosexualität sind ihre Zielscheibe. Crivella, der Bischof der allumfassenden Kirche von Gottes Herrschaft in Rio und Bürgermeister der Stadt, bekämpft den dortigen Karneval.

Ein weiterer Feind dieser Freikirchen sind der Kommunismus und alle Organisationen der Arbeiterklasse. Diese Kirchen, die anscheinend ein Drittel der Brasilianer beeinflussen, stehen untereinander in Konkurrenz. Doch sie haben sich nun zusammengetan, um Bolsonaros Kandidatur zu unterstützen. Dieser war vorher ein glühender Katholik, nun aber hat er sich von einer evangelistischen Sekte taufen lassen.

Bolsonaro erschien also paradoxerweise als ein neuer Mann, ein Kandidat "gegen das System", der eine Antwort auf die Probleme des Landes hat: auf die Korruption, die Gewalt und die Wirtschaftskrise. Seine Wählerschaft ist weit über die Minderheit der jungen, weißen, studierten Mittelschicht mit besserem Einkommen hinausgegangen, die bis dahin seine Wählerschaft ausmachte. Er hat auch breite Unterstützung in der Mehrheit, aus Mestizen und Ärmeren bestehenden Bevölkerung bekommen, in den Armenvierteln, den Favelas und sogar bei den Frauen. Denn sein Wahlkampf drehte sich hauptsächlich um die Probleme dieser Mehrheit.

Die Wirtschaftskrise

Brasilien blieb von der weltweiten Wirtschaftskrise lange Zeit verschont. Selbst die von 2007-2008 hat sie nur sehr kurz getroffen. Das Land exportiert in die ganze Welt seine Erze und landwirtschaftlichen Produkte: Eisen, Zucker, Soja, Rindfleisch und Hühnerfleisch, Orangensaft, deren Preise hoch blieben. Jedes Jahr strömten zwischen 80 und 100 Milliarden Dollar Kapital nach Brasilien, angelockt durch die einträglichen Zinssätze. Diese Kapitalzufuhr glich die Bilanzen des Landes aus.

Die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs endete 2014-2015. Die Rohstoffpreise brachen dauerhaft ein, die ausländischen Investitionen wurden weniger. Das Geld verlor dem Dollar gegenüber an Wert, die Inflation nahm wieder zu, selbst wenn sie noch weit entfernt ist von der Hyperinflation der 1990er Jahre.

Für die Großgrundbesitzer sowie das Großbürgertum, das Industrie und Banken besitzt, geht der Aufschwung weiter. Sie lassen die Arbeitenden die Krise bezahlen, mit Hilfe von Reformen, die massiv die sozialen Rechte sowie das Gesundheits- und Bildungswesen verschlechtert. Das Kleinbürgertum, das seit zwanzig Jahren einen weitgehenden Zugang zu Krediten hatte und einen Konsum, der einem entwickelten Land würdig ist, fürchtet nun, wieder zurück ins Elend zu stürzen und macht querbeet die Armen, die "vom Staat Ausgehaltenen", die Arbeiter, die Linke, die Arbeiterpartei und den Kommunismus dafür verantwortlich (selbst wenn die Kommunistische Partei Brasiliens eine sehr reformistische Partei ist, ständiger Bündnispartner der Arbeiterpartei in der Regierung, und nichts mehr mit der Guerilla zu tun hat, die sie vor fünfzig Jahren gepriesen hat).

Die Arbeiterklasse ist diejenige, die mit voller Wucht die Folgen der Krise zu spüren bekommt. 13 Millionen Lohnabhängige sind mittlerweile arbeitslos (13%). Was bedeutet, dass das Elend in die Städte zurückkehrt - in einem Land, in dem das Elend seit den 1960er Jahren eher für die ländlichen Gegenden kennzeichnend war, bekämpft von Hilfsprogrammen, die die Arbeiterpartei ab 2003 eingeführt hat. Mit den Reformen der letzten Jahre haben die Bosse und die Regierungen einen wahren sozialen Krieg begonnen. Ein Teil der Arbeiter hat Bolsonaro gewählt, in der Hoffnung, er würde Maßnahmen zu ihren Gunsten ergreifen. Es ist charakteristisch, dass die Hälfte seiner Wähler in dem industrialisiertesten Teil des Landes lebt, um Sao Paulo, Rio und Belo Horizonte.

Bolsonaro macht keinerlei Vorschläge gegen die Krise. Man weiß nicht einmal, ob er ein wirtschaftliches Programm hat. Lange Zeit schien er eher ein Anhänger staatlicher Intervention zu sein, wie die Arbeiterpartei, die er unterstütze. Heute verspricht er die Privatisierung aller Staatsunternehmen. Neulich erst sprach er davon, dass das Land aus dem Pariser Klimaabkommen austrete. Die sozialen Hilfsprogramme bezeichnete er als Programme, die "eine Bevölkerung von Verbrechern und Faulenzern ernähren" - ohne jedoch ihre Abschaffung zu verlangen. Er machte Guedes zu seinem Wirtschaftsberater, einem ehemaligen Bankier und Anhänger des Liberalismus und der Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft. Doch auch wenn Guedes für Bolsonaro ein gutes Aushängeschild gegenüber dem Großbürgertum ist, weiß man nie, wie weit die beiden sich einig sind und wie lange sie einer Meinung bleiben.

Bolsonaro gefällt vielen im Bürgertum, aber er ist weit davon entfernt, dass ihn alle akzeptieren. Die Rechte von Cardoso und die Linke von Lula-Rousseff haben dem Bürgertum zu ihren Regierungszeiten Wohlstand und Aufschwung gebracht. Bolsonaro hingegen ist ein unbekannter Faktor und damit ein Risiko, trotz seiner offensichtlich guten Absichten gegenüber der Bourgeoisie.

In Ermangelung eines wirtschaftlichen Programms beruft sich Bolsonaro auf ein mystifiziertes Bild der Diktatur. Die Zeit der Diktatur war eine Zeit, in der es eine schnelle Industrialisierung gab, die immer mehr Arbeitskräfte verlangte, wo man Arbeitslosigkeit nicht kannte und die Löhne mehr schlecht als recht stiegen. Es entspricht unseren Jahrzehnten des "Wirtschaftswunders" nach dem Zweiten Weltkrieg. Diesem mythischen Bild fügt er einige platte arbeiterfeindliche Sprüche hinzu, zum Beispiel dass die Sozialgesetze die Beschäftigung verhindern und für die Arbeitslosigkeit verantwortlich seien.

Die Taktik Bolsonaros besteht darin, jedes Mal anzugreifen, wenn man ihn zu einem Punkt seines Programms befragt. Außerdem hat er jede Debatte abgelehnt und entzieht sich soweit wie möglich allen Interviews. Er zieht es vor, sich von einem seiner Assistenten vertreten zu lassen. Wird er auf wirtschaftliche Fragen angesprochen, so greift er den Sozialismus und Kommunismus an, für die angeblich die Arbeiterpartei stehen würde - während in Wahrheit weder ihre Ideologie noch ihre Zeit an der Regierung irgendetwas sozialistisches oder kommunistisches an sich hatten.

Er prangert das Venezuela von Chavez und Maduro an: Das Elend, das dort herrscht, mache ihm zufolge die verheerenden Folgen des Kommunismus deutlich. Er gibt vor, Brasilien hiervor zu beschützen. Dieser Antikommunismus nimmt eine fremdenfeindliche Färbung an angesichts der Tatsache, dass einige zehntausend venezolanische Flüchtlinge in Brasilien angekommen sind und manchmal Opfer von Gewalt wurden. Die venezolanischen Flüchtlinge anzugreifen ist keineswegs eine Garantie für die brasilianischen Arbeitenden, im Gegenteil. Das verhindert nicht, das einige Bolsonaro wählen, um ihre Auflehnung auszudrücken und um zu sagen: "Bolsonaro ist der Lula von gestern".

Eine gewalttätige Gesellschaft

Die Gewalt ist allgegenwärtig in einer Gesellschaft, wo man im Jahr 2017 allein 64.000 Morde gezählt hat, das heißt ein Mord alle acht Minuten. Diese Gewalt ist einerseits das Produkt der Sklaverei, die es bis 1888 gab. Außerdem ein Produkt des anschließenden halbfeudalen Systems, in dem die "coroneis", gleichzeitig Großgrundbesitzer und politische Machthaber, das Recht hatten, über Leben und Tod ihrer Bauern und der gesamten Bevölkerung zu entscheiden. Bis heute ist der Staat wenig zentralisiert, jeder Staat des brasilianischen Staatenbundes hat seine eigenen Gesetze, seine Polizei, seine Herrscher-Dynastien. Auf dem Land befreit die Bundespolizei jährlich hunderte Arbeiter, die man in die Sklaverei gezwungen hat. Hier herrscht immer noch das Gesetz der "jagunços", dieser Handlanger der Großgrundbesitzer, die Gewerkschafter der Landarbeiter oder widerspenstige Indianer ermorden.

In den Städten, wo drei Viertel der Bevölkerung lebt, richtet sich die häusliche Gewalt gegen die Kinder und Frauen. Und jedes Jahr sterben 6.500 Frauen unter den Schlägen ihres Ehemannes. Eine Diskussion, eine Streitigkeit unter Nachbarn kann mit Messerstichen oder Revolverschüssen enden. An jeder Straßenecke gibt es Waffen, obwohl es seit 2004 ein Gesetz gibt, das vorgibt, sie zu verbieten.

Die parlamentarische Fraktion "der Kugel", das heißt der Waffen, steht der Fraktion des "ländlichen Brasiliens" nahe, sprich den Großgrundbesitzern, den Besitzern der Zuckerrohr- und Sojaplantagen und der Viehherden. Mehr als die Hälfte der Abgeordneten und Senatoren sind Mitglied einer dieser beiden Fraktionen, und Bolsonaro ist einer von ihnen. Zu all dem kommt noch die Polizeigewalt und die Gewalt der Gangs hinzu. Die brasilianische Polizei tötet viel. Die Leute, die sie auf der Straße oder in den Favelas tötet, werden gerne und schnell als Straftäter oder Verbrecher abgetan, und ihre Familien haben einzig das Recht zu weinen.

Aus Rache werden Polizisten ebenfalls regelmäßig ermordet. Die Polizisten fühlen sich bedroht und ihnen sitzen die Waffen ziemlich locker, insbesondere bei jungen Schwarzen in den ärmeren Stadtteilen - ähnlich wie in den Vereinigten Staaten.

Und nicht zuletzt sind die Gangs anerkannte Machtorgane. Sie sind zentralisiert, bundesweit hierarchisch aufgebaut und mit klaren Leitungsstrukturen. Sie sind regelrechte Drogen- und Handelskonzerne, die oftmals die Gewalt im Zaum halten und verringern, da diese nicht gut fürs Geschäft ist.

Aber sie müssen einschüchtern, die Outsider eliminieren, ihr Territorium vergrößern oder verteidigen. Sie geraten auch manchmal mit dem Staat aneinander, wenn dieser vorgibt, sie mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern aus gewissen Favelas von Rio zu vertreiben. Meistens verhandeln sie, aber manchmal entscheiden sie sich auch zu einer Demonstration ihrer Macht. So hat eine Gang zum Beispiel die Kommunikationsfreiheit für ihre im Gefängnis sitzenden Anführer durchsetzen wollen, indem sie in ganz Rio den Strom abgestellt und mehrere Dutzend Busse zerstört hat.

Die Arbeitenden und ihre Familien leiden tagtäglich unter dieser Gewalt. Sie sind Opfer von Diebstählen, von Schutzgelderpressungen, Überfällen, Vergewaltigungen und der Unverfrorenheit der Polizei, von verirrten Kugeln in Auseinandersetzungen zwischen Gangs oder zwischen der Polizei und Verbrechern. Sie suchen Frieden und Schutz. Bolsonaro selbst wurde am 6. September von einem Psychopathen mit einem Messer angegriffen und verletzt.

Bei diesem Thema nutzt er sein Image als ehemaliger Soldat, per Definition ein Ordnungshüter. Er erklärt, dass er die Autorität des Staates wiederherstellen, das Budget der Armee erhöhen, das Gesetz zur Einschränkung des Waffenbesitzes aufheben und den Polizisten jedes Recht einräumen wird, auf Gesetzesbrecher zu schießen. Er greift das beliebte Sprichwort auf, dass "nur ein toter Bandit ein guter Bandit ist".

Für Vergewaltiger von Frauen schlägt er chemische Kastration vor. Das kann ihn mit den Frauen aussöhnen, die über seine Angriffe auf den Mutterschutz und seine Rechtfertigungen der niedrigen Löhne für Frauen schockiert waren. Seine Erklärungen gefallen sicherlich sowohl der Polizei und den Soldaten, als auch den Opfern der Gewalt. Jeder will aus ihnen das heraushören, was er sich wünscht.

Aber wenngleich viele in der Armee Bolsonaro und seine Erklärungen schätzen, ist der Generalsstab nicht gewonnen. Die Spitze der Armee steht nicht zu seiner Verfügung. Er hat einen General zum Vizepräsidenten ernannt, aber er musste ihn zum Schweigen bringen, so viele grobe Fehler sind ihm unterlaufen. Zum Beispiel hat er am Vortag des ersten Wahlganges davon gesprochen, das dreizehnte Monatsgehalt abzuschaffen, was 100 Millionen Lohnabhängige gegen Bolsonaro aufzubringen drohte.

Auch in der Frage der Gewalt beschwört Bolsonaro die "gute alte Zeit" der Diktatur. Armee und Polizei hatten in der Zeit zwar einen Freifahrtschein zu foltern und zu töten. Doch häusliche Gewalt und Banditentum gab es trotzdem. Im Gegenteil, in dieser Zeit entstanden die Todesschwadronen, die die Straßen und die ehrlichen Leute von Bettlern, Obdachlosen und Straßenkindern befreien wollten.

Die politische Korruption

Wie die Gewalt, so hat auch die politische Korruption in Brasilien Tradition. Von den dreißig in der Nationalversammlung vertretenen Parteien ähneln nur zwei den europäischen Parteien: die Arbeiterpartei von Lula und die PSDB vom ehemaligen Präsident Cardoso. Und beide haben in der Nationalversammlung nur eine kleine Minderheit der Sitze. Die Parteien dienen vor allem dem Zweck, Gelder zu sammeln, die eine kleine Gruppe von Abgeordneten bereichern, meist um einen regionalen politischen Anführer. Diese Parteien sind Privatverbände, die weder Überzeugungen noch Programme haben.

Damit ein Präsident und ein Ministerium eine Regierungsmehrheit haben und regieren können, müssen sie eine ausreichende Anzahl dieser Politiker und Parteien hinter sich bringen. Das heißt, sie müssen sie kaufen, mit politischen Posten, mit einträglichen Pöstchen ... oder mit Dollar. Und die Konzerne sind immer bereit, das hierfür notwendige Geld bereitzustellen - im Austausch für lukrative Geschäfte, insbesondere für Staatsaufträge, bei denen ihnen der Staat weit mehr als die üblichen Preise zahlt.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1980 versprach die Arbeiterpartei, eine ehrliche Regierung zu gründen und mit den Eliten und diesen nationalen Gebräuchen zu brechen. Aber sie wollte die Gesellschaft nicht von Grund auf erneuern. Doch je mehr sie sich der Staatsmacht annäherte, in den Städten, den Ländern, den Landtagen und der Nationalversammlung, desto mehr Abkommen musste sie mit den anderen Parteien, den einflussreichen Persönlichkeiten und den Kapitalisten schließen.

Gleichzeitig verlor sie einen Großteil ihrer Aktivisten, die ihre Stärke ausgemacht hatten. Aus ihr wurde nach und nach ein Apparat von Hauptamtlichen - organisiert mit dem Ziel, an die Macht zu gelangen. Am Ende wurden sie von denselben Interessen und Motiven angetrieben wie die traditionellen Parteien. Und als sie im Jahr 2003 an die Regierung gelangte, ging sie ihrerseits bei den Unternehmen Geld sammeln, um die Stimmen der Abgeordneten zu kaufen.

Die Skandale ließen nicht lange auf sich warten. Bereits 2004 gab es den "mensalao", die fette Monatsrate - eine Barzahlung in Dollar an mehr als hundert Abgeordnete. Dank des anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs behielt Lula sein Ansehen, aber in der Führung der Arbeiterpartei und der Regierung gab es mehrere Säuberungen. Sie gingen so weit, dass Lula schließlich Dilma Rousseff - die nicht in die Skandale verwickelt war - bitten mussten, seine Nachfolge anzutreten.

Dilma Rousseff wurde gewählt, aber der Skandal des Mensalao lebte in der Affäre Petrobras wieder auf: Die staatliche Ölgesellschaft hatte alle möglichen Verträge zu überhöhten Preisen abgeschlossen, um es der Arbeiterpartei so zu ermöglichen, Gelder einzusammeln. Dieses Mal ging es auch um eine direkte Beteiligung Lulas. Und Dilma Rousseff wurde zum "Kollateralschaden" bei der Jagd auf die Korrupten, die einige Richter der Rechten begonnen hatte. Sie wurde einer kleinen buchhalterischen Regelwidrigkeit wegen als Präsidentin abgesetzt - von einem Abgeordnetenhaus und einem Senat voller wirklicher korrupter Abgeordneter, die sechs Jahre lang mit ihr zusammen regiert hatten.

Die zunehmende Wirtschaftskrise ist der eigentliche Grund, warum diese Affären auf einmal solche massiven Folgen hatten und in allen Bevölkerungsschichten - einschließlich der Arbeiterklasse - Empörung und Aufruhr hervorriefen. Die Rechte zögerte lange, diese Empörung zu schüren, da sie sich auch gegen sie wenden konnte. Doch als sie sich schließlich dafür entschied, war sie unfähig, die Stimmung in den Massen zu ihren Gunsten zu wenden. Stattdessen gerieten alle Politiker in Misskredit, da sie alle mehr oder weniger in die Korruption verwickelt sind.

Die Arbeiterpartei behielt ein Standbein in der einfachen Bevölkerung im Nordosten, wo der sehr arme Teil der Bevölkerung besonders von den Hilfsprogrammen profitiert (z.B. das Familiengeld, das Familien erhalten, die ihre Kinder zur Schule schicken), was der PT hier eine Wählerschaft sichert. Im Gegensatz dazu hat sie in der reichen Region im Südosten, mit den Staaten Rio, Sao Paolo und Minas Gerais, wo sie in den 1980er und 1990er Jahren ihre Hochburgen hatte, nahezu keine Wähler mehr. Hier hat dagegen Bolsonaro über die Hälfte der Stimmen erhalten.

Was das Thema Korruption angeht, so wird zu Gunsten Bolsonaros einzig das Argument vorgebracht, dass er in keine Affäre verstrickt war und das Land von korrupten Politikern der Linken wie der Rechten reinigen würde. Auch hierbei stützt er sich wieder auf den Mythos der Diktatur, von der er behauptet, dass sie aufrichtig war, ohne faule Kompromisse. Das ist eine Lüge, aber wie viele Leute erinnern sich noch an die Diktatur und all dem Widerlichen, was dort unter der Oberfläche geschah? Die Armee machte reihenweise illegale Geschäfte und das Kriegsrecht schützte sie dabei.

Bolsonaro ist nicht der Erste, der sich als Saubermann präsentiert. Im Jahr 1990 hat Collor, ein Sohn von Machthabern aus dem Nordosten, die Wahl gegen Lula gewonnen, indem er behauptete, "Jagd auf die Maharadschas" zu machen, sprich auf die Korrupten. Zwei Jahre später trat er zurück, nachdem er dabei ertappt worden war, dass er die Staatskasse mit seiner eigenen Brieftasche verwechselte.

Man kann nicht sagen, wie Bolsonaro regieren wird, aber seine Partei ist eine kleine Minderheit. Und ohne radikale Veränderung des politischen und des Wahl-Systems wird er gezwungen sein, sich mit Abgeordneten, Senatoren und Gouverneuren zusammen zu tun, für die heimliche Abmachungen und Korruption die beiden Futtertröge der Politik sind. Auch wenn viele der am 7. Oktober Gewählten für ihn aussprechen, so haben sie sich nicht verändert, und man wird sie nicht mit frischem Wasser abspeisen können.

Mit Sicherheit eine reaktionäre Politik

Für die wichtigsten Probleme der Brasilianer, die soziale Krise, die Gewalt und die Korruption, hat Bolsonaro also nichts als allgemeine Absichtserklärungen anzubieten und das mystifizierte Beispiel der Diktatur. Er will ein Mann der Vorsehung sein, ein direkter Vertreter von Gott und Vaterland. Er ist ein Reaktionär der schlimmsten Sorte, und seine Wahl ermutigt alle Frauenfeinde und Homophoben, die bereits jetzt mehr Gewalttaten verüben.

Vorherzusehen was er machen wird, ist jedoch eine andere Sache. In vielen Punkten weiß man nicht mal, was er denkt. Für Gott und Vaterland zu sein ist kein Programm. Er ist für die Armee, die Polizei, die Bewaffnung der Bevölkerung - was noch mehr Gewalt und Willkür bedeutet. Er will einen Teil der Arbeitsgesetze abschaffen. Und er wird ganz sicher die Reformen fortsetzen, die die kapitalistische Klasse verlangt - insbesondere die Rentenreform, die von Dilma Rousseff begonnen wurde, von ihrem Nachfolger Temer fortgesetzt wurde, aber noch immer unvollendet ist.

Die Brutalität seiner Äußerungen soll oft verdecken, dass er kein Programm hat. Aber gleichzeitig ist sie auch ein Programm: das Programm der harten Hand, einer autoritäreren Gesellschaft, für die er in der Diktatur sein Vorbild findet.

Aber was er wirklich machen wird, hängt weniger von seinem eventuellen Programm ab als von der Krise und ihrer Entwicklung. Seine Maßnahmen werden sich ganz sicher gegen die Arbeiterklasse und ihre sofortigen wie langfristigen Interessen richten. Diese Klasse ist 100 Millionen Arbeitende stark. Trotz ihrer derzeitigen Apathie hat sie in der Vergangenheit bedeutende, große Kämpfe gegen die Kapitalisten und zu ihrer Zeit auch gegen die Diktatur geführt.

Unter der Bedingung, dass sie auf ökonomischem und politischem Gebiet wieder zu kämpfen anfängt, ist sie die einzige, die einen Ausweg aus der derzeitigen Krise eröffnen kann - der Krise, die Bolsonaro an die Spitze der sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Welt katapultiert hat.