Frankreich - Die Revolutionäre und die Bewegung der Gelbwesten (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - vom Dezember 2018)

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Frankreich – Die Revolutionäre und die Bewegung der Gelbwesten
Dezember 2018

Dieser Text beruht auf einer Rede auf dem Kongress von Lutte Ouvrière, der am 8. und 9. Dezember stattgefunden hat. Die Rede wurde damit vor dem 10. Dezember gehalten, an dem Macron in einer großen Fernsehansprache den Gelbwesten einige kleinere Zugeständnisse gemacht hat.

 

Anfang November war die Bewegung der Gelbwesten noch hauptsächlich virtuell. Doch unter dem Druck der Bevölkerung verändert sich die politische und soziale Lage schnell, und dies kann noch größere Ausmaße annehmen.

Die neueste Entwicklung der Bewegung der Gelbwesten

Die Bewegung ist von der Menge ihrer Teilnehmer her nicht außergewöhnlich groß. Glaubt man den Zahlen des Innenministeriums, so waren am 17. November rund 287.000 Demonstranten auf der Straße, am 24. November 166.000 und am 1. Dezember 136.000. Dann wäre sie sogar dabei zu schrumpfen. Aber wenn man den 1. Dezember erlebt hat, dann weiß man, dass die Bewegung entschlossen und wortwörtlich explosiv ist. Denn es gibt hier nicht auf der einen Seite professionelle Randalierer und auf der anderen Seite die braven Gelbwesten, die friedlich demonstrieren. Die Richter, die die ganze Woche lang die am Samstag Festgenommenen in Eilverfahren vorgeladen und abgeurteilt haben, mussten sich eines Besseren belehren lassen. Statt Randalierern, Plünderern oder Aufrührern sind vor ihnen auf der Anklagebank reihenweise Arbeiter, Handwerker, Techniker, Leiharbeiter erschienen, die oft nicht aus Paris, sondern aus der Provinz kamen.

Es gibt eine soziale Empörung, die sich auch mit Gewalt ausdrückt. Und dabei war nicht das entscheidend, was sich auf der Champs-Élysées abgespielt hat, sondern zum Beispiel in Puy-en-Velay und zahlreichen anderen kleineren Städten, in denen zum ersten Mal seit langer Zeit Barrikaden errichtet wurden. Bis heute und trotz des entstandenen Schadens bleibt die Bewegung sehr beliebt.

So begrenzt sie auch ist, so ist sie dennoch für uns bereits jetzt sehr lehrreich. Wir wiederholen häufig, "dass die Leute in der Lage sind, ohne Vorwarnung loszulegen, dass Menschen, die noch nie gestreikt haben, die sich nicht für Politik interessieren, sich auflehnen". Und genau das erleben wir gerade! Viele der Gelbwesten sind in dieser Bewegung zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße gegangen, sie campieren seit drei Wochen in Kälte und Regen draußen, und sie wollen trotz der Zugeständnisse der Regierung nicht locker lassen. Sie sagen selbst: Hätte die Regierung ihre Zugeständnisse vor einem Monat gemacht, so hätte dies die Situation vielleicht wieder beruhigt. Aber jetzt ist es zu spät, denn die Forderungen beschränken sich nicht mehr auf die Steuern, sondern haben sich jetzt auch auf die Vermögenssteuer, die Sozialabgaben und den Mindestlohn ausgeweitet. Und je länger es dauert, umso mehr trauen sich die Gelbwesten ihre Forderungen zu formulieren, und sei es nur deshalb, weil sie Selbstvertrauen gewonnen haben.

Angesichts der Dynamik der Bewegung ist die Regierung immer zu spät dran. Wenn sie endlich Zugeständnisse macht, fordern die Massen bereits, dass sie mehr Zugeständnisse machen muss. All das passiert sich in einem ganz kleinen Maßstab, aber es gibt einem eine Idee davon, wie sich die Dinge in einer wirklich revolutionären Zeit vertiefen und beschleunigen können.

Das Beeindruckende an dieser Bewegung ist die Entschlossenheit. Diejenigen, die zum ersten Mal in ihrem Leben kämpfen, scheinen viel entschlossener zu sein als alle Gewerkschaftsführer zusammen. Die Vorgehensweise bei Protesten, die die Gewerkschaften den Arbeitenden eingehämmert haben - zum Beispiel dass die Demo-Route vorab mit der Polizei abgesprochen ist oder dass auf den Kundgebungen und Streikversammlungen die Gewerkschaftsführer, die sich sonst bei den Arbeitern nie blicken lassen, ankommen und schöne Reden halten -, all diese Gewohnheiten dienen dazu, die Wut zu kanalisieren und sie unter der Kontrolle der Gewerkschaftsapparate zu halten.

Und selbst wenn die Arbeiter vor Ort nicht einverstanden sind mit dem, was die Gewerkschaftsorganisationen vorschlagen beziehungsweise nicht vorschlagen, so ist es für sie schwierig, etwas ohne die Gewerkschaft zu machen. Tatsächlich legen derzeit die Berufsgruppen der arbeitenden Bevölkerung die größte Kampfbereitschaft an den Tag, die von der gewerkschaftlichen Bevormundung am wenigsten betroffen sind.

Seit Beginn der Proteste ist die Bewegung zahlenmäßig ziemlich begrenzt. Die meisten sind passiv geblieben und beschränken sich darauf, beim Vorbeifahren zu hupen und damit die Gelbwesten zu grüßen. Wird die Bewegung durchhalten? Wird die vollkommen übertriebene Darstellung der Gewalt durch die Regierung und die Hysterie, die sie verbreitet, den Elan der Gelbwesten bremsen? Wird es Gewalt geben? Welche Folgen wird dies für die Bewegung selbst und für die Politik der Regierung haben? All das werden wir in den nächsten Tagen wissen.

Eine größere politische Krise

Sicher ist in jedem Fall, dass wir uns in einer größeren politischen Krise befinden. Seit einiger Zeit bereits sinkt die Zustimmung für die Regierung Macron in den Umfragen, ihre Anhänger zweifeln. Hinzu kam die Affäre Benalla, und die Minister Hulot und Collomb haben die Regierung verlassen. Seit der Wahl von Macron vertreten wir die Ansicht, dass seine Macht nur scheinbar stabil ist. Macron war zwar eine Lösung dafür, dass die beiden Parteien, die sich bislang an der Regierung abgewechselt hatten, völlig diskreditiert waren. Aber da er zum Nutzen des Großbürgertums regiert, ist er unfähig, etwas gegen auf verheerenden Auswirkungen der Krise in der arbeitenden Bevölkerung zu unternehmen. Im Gegenteil kann seine Politik deren Lebensbedingungen nur noch weiter verschlimmern.

Diese Einschätzung, die wir seit Beginn seiner Amtszeit vertreten haben, ist Wirklichkeit geworden. Die Lage hat sich zwar erst allmählich verschärft, aber mittlerweile ziehen sogar die politischen Kommentatoren ernsthaft den Sturz der Regierung in Betracht.

Die politische Krise ist da und sie ist tiefgreifend. Selbst wenn die Regierung es schafft, wieder für Ruhe zu sorgen, die politische Krise wird weitergehen. Vor allem, weil Macron bei der Bevölkerung bereits seine Glaubwürdigkeit verloren hat und aus diesem Grund auch bei der Bourgeoisie bis zu einem gewissen Grad schlecht dasteht.

Aus Sicht der Besitzenden und der Bourgeoisie macht Macron nicht mehr wirklich seinen Job. Er hatte alles, um dem Großbürgertum, den Bankiers und ihren Gesellen zu gefallen - vor 18 Monaten. Jetzt, wo er das Land in Aufruhr versetzt und das für so eine Kleinigkeit wie die Mineralölsteuer, hat die Bourgeoisie einigen Grund weniger zufrieden mit ihm zu sein.

Die Bourgeoisie erwartet von ihrem politischen Personal, dass es die Situation beherrscht und die gesellschaftliche Ordnung sicherstellt. Und zwar indem es die Bevölkerung dazu bringt, die bittere Pille einer Politik zu schlucken, die für die Reichsten gemacht ist. Diese Kritik hört man von den alten Hasen vom Schlag der Politiker Royal oder Hollande, aber auch von Cohn-Bendit: Macron sei zu unerfahren und zu stolz gewesen, dies habe ihn daran gehindert, zum rechten Zeit nachzugeben. Zweifellos spiegelt die Kritik all dieser Politiker das wider, was man auch in den Kreisen der Bourgeoisie diskutiert.

Die Krise ist für die Bourgeoisie umso besorgniserregender, als sich in ihr nicht nur Misstrauen gegenüber Macron, sondern auch gegenüber dem Staat ausdrückt. Es wird sowohl die Rechtmäßigkeit der Wahl Macrons als auch die Rechtmäßigkeit der Institutionen in Frage gestellt. Und die Tatsache, dass die Gewalt, die Zerstörung und die Auseinandersetzungen mit den Sondereinsatzkräften der Polizei am1. Dezember nicht nur von den Gelbwesten, sondern von der großen Mehrheit der Bevölkerung verstanden und akzeptiert wird - und zwar einer großen Mehrheit, die sich selber nicht an der Bewegung beteiligt hat - zeigt den Bruch eines Teils der Bevölkerung mit dem Staat.

Die Politik der Oppositionsparteien

Die gesamte Opposition (die Rechtsextremen, die Konservativen, die Sozialistische Partei, die Partei von Mélenchon, die Kommunistische Partei ...) benutzt Macron nun als Prügelknaben. Nachdem die konservativen Wortführer Dupont-Aignan und Wauquiez sich eine gelbe Weste übergezogen haben, hat sich nun Ex-Präsident Hollande mit Gelbwesten fotografieren lassen, wobei er offensichtlich eine diebische Freude daran hatte, dem Grünschnabel eins auszuwischen, der ihm den Platz geklaut hat. Rache ist süß, wie man sagt. Und Hollande scheint dies in vollen Zügen zu genießen.

Alle Politiker des Landes knüpfen sich nun Macron vor - inklusive derjenigen, die bereits an der Macht waren und damit einen großen Teil der Verantwortung für die aktuelle Lage tragen. Sie alle geben vor, die Lösung zu haben, um den sozialen Aufruhr zu beenden.

Die scheinbare Einheit und Geschlossenheit der Politiker gegen Macron und mit den Gelbwesten, für die sie alle Verständnis heucheln, gibt es natürlich kein bisschen. Aber da in dieser Bewegung alles Mögliche zum Ausdruck kommt und diverse Aktivisten sich bemühen, sie in die eine oder andere Richtung zu lenken, ist es für die Politiker nicht schwer, sich auf die ein oder andere Art auf die Bewegung zu berufen. Solange die Bewegung sich vor allem gegen die ungerechte Steuerpolitik der Regierung richtet, ohne dass die Bourgeoisie angegriffen wird, kann jede dieser Parteien ihren Anteil daran verteidigen.

Übrigens sind alle Oppositionsparteien der Bourgeoisie gegenüber verantwortungsbewusst genug, um gleichzeitig zum gesellschaftlichen Frieden aufzurufen. Ihre Aufrufe zum Rücktritt Macrons (Dupont-Aignan, François Ruffin), zum Rücktritt des Innenministers Castaner (Le Pen) oder zur Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen (Mélenchon), hören sich zwar radikal an. Aber bei allen geht es vor allem darum, Lösungen im Rahmen der staatlichen Institutionen anzubieten und so die Proteste auf der Straße zu beenden.

Es ist noch zu früh, um zu sagen, welche politische Richtung durch die Bewegung gestärkt werden wird. Wie kann sich die Bewegung politisch entwickeln? Einige Gelbwesten möchten sie zu einer politischen Partei umfunktionieren. Manche sagen, dass sie eine Liste für die Europawahl vorbereiten. Wenn man bedenkt, wie schwer es der Bewegung bereits fällt, sich auf Vertreter zu einigen, die im Namen sprechen können, scheinen ihre Pläne ziemlich ambitioniert. Aber es ist nicht unmöglich. In Italien gibt es das Beispiel der 5-Sterne-Bewegung. Diese hat sich ab 2009 um die Person Beppe Grillos gebildet, dessen Figur diese sehr bunt zusammengewürfelte Gruppe letztlich zusammenhält. Grillo war zu Beginn absolut kein Aktivist, er war Comedian, bekannt durch das Fernsehen. Dies ist nur ein Beispiel, an dem man sieht, dass die Wege, wie Bewegungen eine organisierte Form annehmen, manchmal ziemlich erstaunlich sein können.

In Spanien hat 2011 die Bewegung vom 15. Mai (die "Indignados") die Partei Podemos hervorgebracht. Diese Bewegung war ohne Zweifel tiefgreifender, größer und linker als es bei den Gelbwesten derzeit der Fall ist. In jedem Fall ist es nicht auszuschließen, dass eine neue politisch auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners entsteht. Dieser kleinste gemeinsame Nenner könnte der Anspruch sein, die klassischen Parteien von der politischen Bühne zu verjagen.

Alternativ dazu könnte die Bewegung auch unter dem Druck der entgegengesetzten politischen Strömungen auseinanderfallen. Über die Medien versuchen alle Oppositionsparteien, die Bewegung zu instrumentalisieren und sie vollständig für sich zu beanspruchen. Übrigens nicht nur im Fernsehen! Wenn wir von einer spontanen Massenbewegung reden, dann bedeutet dies nicht, dass es in ihr keine politischen Einflüsse gibt. Innerhalb der Gelbwesten wirken zahlreiche politische Einflüsse. Die Rechtsextremen waren hier von Anfang an aktiv. Ein paar Initiativen sind sogar um Aktivisten von Debout la France (DLF - "Frankreich steh auf") oder von Rassemblement national (RN - "Nationale Sammlungsbewegung", vormals Front National von Le Pen) entstanden. Diesen Einfluss konnte man am 20. November bei der Straßensperre von Flixecourt sehen, wo Gelbwesten sechs Migranten, die sich in einem Tankwagen versteckt hatten, verraten und dann mit dieser Denunzierung angegeben haben. Er zeigt sich außerdem in den völlig verrückten Gerüchten über den UN-Migrationspakt, der Frankreich dazu zwingen würde, seine Grenzen zu öffnen.

Bis jetzt bezieht nur eine kleine Minderheit offen gegen Migranten Stellung. Und rassistische Äußerungen wurden von den Gelbwesten, die man darauf ansprach, ausdrücklich abgelehnt. Und es wäre auch nicht richtig, die bei den Protesten quasi überall mitgeführte französische Nationalfahne automatisch mit den Rechtsextremen zu verbinden. Man spürt im Gegenteil auch den Einfluss der kommunistischen Partei (PCF), von "La France insoumise" (LFI - "unbeugsames Frankreich", der Partei von Mélenchon) und von Gewerkschaftern. Vor allem in den Äußerungen, die den Zustand des Öffentlichen Dienstes in den Vordergrund stellen.

Die Bewegung ist Gegenstand eines politischen Kampfes und spiegelt die Spaltungen in der Gesellschaft wider. Wer wird dabei die Kastanien aus dem Feuer holen? Mélenchon oder genau umgekehrt Le Pens "Rassemblement National"? In dieser Bewegung, die tausenden Frauen und Männern Lust gegeben hat, sich zu engagieren, die ihnen Lust auf kollektive, gemeinschaftliche Aktionen gegeben hat, können sich ebenso Gruppen mit gemeinsamen Einstellungen zusammenfinden, die unter dem Einfluss von einigen rassistischen und fremdenfeindlichen Aktivisten der extremen Rechten zu Stoßtrupps gegen die Migranten oder gegen die Arbeiterbewegung werden können. Wir finden immer viele sympathische Dinge in dieser Bewegung, weil es sich Großteils um Arbeiter handelt, die kämpfen und mit denen wir diskutieren können. Doch die meiste Zeit diskutieren sie nicht mit uns, und die stärksten unter ihnen wirkenden Einflüsse sind die aller möglichen Vorurteile.

Zeiten von aufkommenden Kämpfen verleihen sowohl revolutionären als auch reaktionären politischen Ideen einen Sinn. Der Ausgang ist nicht vorherbestimmt. Es handelt sich um einen Kampf. Auch wenn wir nicht groß genug sind, um den Lauf der Dinge zu beeinflussen, so sind wir es uns schuldig, den Arbeitern in dieser Lage eine Politik anzubieten.

Unsere Politik gegenüber den Gelbwesten

Unsere marxistische Überzeugung ist, dass es für die Arbeitenden keinen positiven Ausgang geben kann, wenn die Arbeiterklasse nicht auf der Basis ihrer Klasseninteressen eingreift und vor allem nicht ohne Klassenperspektiven. Das in den großen Betrieben organisierte Proletariat ist als einziges in der Lage, den Kampf gegen die Bourgeoisie und die kapitalistische Ordnung zu führen und der ganzen Gesellschaft revolutionäre Perspektiven zu bieten. Das Paradoxe ist, dass die Arbeiter, die sich am besten wehren können, im Moment diejenigen sind, die es am wenigsten wollen. Aber das muss nicht so bleiben. Wenn einmal eine Bewegung beginnt, öffnet sie nicht nur für diejenigen, die darin aktiv sind, neue Perspektiven, sondern auch für diejenigen, die zuschauen. Es ist also notwendig, dass wir uns an die Arbeiter in den Betrieben wenden, in denen wir aktiv sind und an die Arbeiter, die an der Bewegung der Gelbwesten teilnehmen.

Die Gelbwesten bilden eine Bewegung von sehr gemischter sozialer Zusammensetzung. Es ist eine Bewegung der arbeitenden Bevölkerung der ländlichen Gebiete und kleinen Städte. In ihr sind Lohnabhängige, Rentner, Arbeitslose und viele Handwerker, Scheinselbstständige, Selbstständige, manchmal auch Bauern aktiv - ganz zu schweigen von der Kategorie der "Biker", die in vielen Städten zahlreich dabei war und schwer einzuordnen ist. Die Zusammensetzung ist unterschiedlich je nach Region, nach Stadt oder sogar je nach Straßenblockade innerhalb derselben Stadt.

Die Arbeiter, die in ihr vertreten sind, arbeiten verstreut in kleinen Unternehmen, sind häufig nicht gewerkschaftlich organisiert und dem Milieu der Handwerker und kleinen Ladenbesitzern sehr verbunden. Sie kommen aus den gleichen Familien, treffen sich ständig in den verschiedensten Vereinen und haben häufig die gleichen Lebensverhältnisse. Die Frisörin mit ihrem kleinen Laden, die Blumenhändlerin oder der Handwerker auf dem Bau leben häufig nicht besser als Lohnabhängige, die den Mindestlohn verdienen. Und zahlreiche Selbstständige haben es noch schwerer, ihr Leben zu bestreiten.

All diese Leute kämpfen zusammen. Aber wir wollen uns vor allem an die Arbeiter innerhalb dieser Bewegung wenden und ihnen eine Politik vorschlagen, und nicht der Bewegung als Ganzem. Denn es wäre unnütz und falsch, die Gelbwesten anzumalen und in... Rotwesten verwandeln zu wollen.

Wir kämpfen dafür, dass die Arbeiter unter den Gelbwesten sich ihrer Klasseninteressen bewusst werden, damit ihnen ihre eigenen Forderungen klar werden können, nämlich dass ihr Lohn ihr einziger Reichtum ist und es dafür notwendig ist zu kämpfen. Wir kämpfen dafür, dass ihnen bewusst wird, dass ihr Kampf ein Schlag ins Wasser zu werden droht, wenn sie ihre Forderungen auf die Steuern beschränken. Die meisten Lohnabhängigen unter den Gelbwesten können sich nicht vorstellen, gegen ihren Boss zu kämpfen. Viele von ihnen glauben, dass sie gemeinsame Interessen mit den Unternehmern haben und dass der Kampf nicht gegen das große Kapital, sondern gegen Macron und den Staat geführt werden muss. Insofern sind sie sehr weit von den Ideen des Klassenkampfs entfernt, ja lehnen sie sogar ab.

Die Tatsache, dass die Forderung nach Erhöhung des Mindestlohns von den Gelbwesten ein Stück weit übernommen wird, beruht vor allem darauf, dass die meisten denken, diese Forderung richte sich eher an die Regierung und Macron als an die Unternehmer. Und so hat auch der Vorsitzende der Medef (des französischen Arbeitgeberverbands) bereits erklärt, dass er nichts gegen eine Erhöhung des Mindestlohnes einzuwenden habe, sofern der Staat sie bezahlt! Und eben das schwirrt auch ein bisschen in vielen Köpfen herum.

Anders gesagt, wir rufen nicht wie die NPA (die "Neue Antikapitalistische Partei") dazu auf, "alle Empörungen zu vereinigen", sondern wir zielen darauf ab, sie zu trennen. Wir zielen darauf ab, in dieser Bewegung die Klassendynamik der ausgebeuteten Arbeiter auf der einen Seite von der Klassendynamik der kleinen Unternehmer auf der anderen Seite zu trennen. Uns geht es auch darum, unsere Politik derjenigen entgegenzustellen, die Le Pens Rassemblement National anbieten kann. Deren Politik besteht darin, auf gar keinen Fall von der Verantwortung der Kapitalisten zu sprechen oder gar zu sagen, dass man an die Gewinne rangehen müsste, um die Löhne zu erhöhen und Leute einzustellen. Das ist der Grund, weshalb wir keine Gelbwesten sind. Aber wir sind mit ihnen solidarisch. Wir hoffen, dass ihre Bewegung wirklich Macron zum Zurückweichen zwingt und dass alle Arbeitenden dies als Sieg empfinden werden.

Es ist nicht einfach, sich mit den Ideen des Klassenkampfes an die Arbeiter unter den Gelbwesten zu wenden. Man muss die richtigen Worte finden, zum Nachdenken anregen und sich die Zeit nehmen, sich zu erklären. Die Genossen, die das seit einem Monat machen, haben diese Erfahrung gemacht. Bemerkenswert dabei ist, dass sie nicht abgewiesen wurden. Wir diskutieren übrigens auch mit den Handwerkern und kleinen Ladenbesitzern, auch um ihnen auseinanderzusetzen, dass Lohnerhöhungen nicht gegen ihre Interessen sind. Und einige sind auch bereit, sich das anzuhören. Trotz aller Schwierigkeiten und Grenzen versuchen wir in dieser Bewegung das zu tun, was wir auch sonst immer machen: das Klassenbewusstsein der Arbeiter zu stärken.

Natürlich werden wir dieser Bewegung keine politische Richtung geben können. Und nochmal, das ist auch absolut nicht unser Ziel. Unser Ziel ist, dass wir uns an die Arbeitenden dieser kleineren Städte wenden und versuchen, ihr politisches Bewusstsein weiterzubringen.

Zehntausende, zum Großteil aus der einfachen Bevölkerung, gehen jetzt zum Teil zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße. Sie entdecken die Solidarität, die entsteht, wenn man zusammen kämpft. Einige sind davon vollkommen überwältigt. Sie lernen sich zu organisieren, sie sagen ihre Meinung, diskutieren, streiten, sei es über die Forderungen oder über die Art und Weise diese durchzusetzen.

Sie lernen die Polizeigewalt und die Repression kennen. Und auch wenn sie immer wieder erklären, dass ihre Bewegung nicht politisch ist, so haben sie noch nie in ihrem Leben so viel Politik gemacht wie jetzt. Sie machen ihre Lehre. Angefangen damit, dass man auch ohne Gewerkschaften einen Kampf beginnen kann und dass die Arbeitenden keine Anwälte brauchen, um ihre Forderungen vorzutragen.

Gegenüber den Arbeitenden in den Betrieben aktiv sein

Diese Bewegung kann sich entwickeln und auch wieder plötzlich an Fahrt gewinnen, sowohl zahlenmäßig als auch in Bezug auf seinen sozialen Charakter. Proteste sind ansteckend, vor allem wenn sie siegreich scheinen.

In der letzten Woche sind unter anderem Oberstufenschüler, Rettungssanitäter und Bauunternehmer auf die Barrikaden gegangen. Und vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und ihren Folgen für die ganze Gesellschaft ist es möglich, dass zahlreiche nichtproletarische soziale Gruppen sich vom Zorn mitreißen lassen und sich mit viel größerer Entschlossenheit in den Kampf gegen die Regierungspolitik werfen als die Arbeiter. Wenn dem so sein wird, wird die Arbeiterklasse dies sozial und politisch bezahlen.

Unsere ganze Politik ist darauf ausgerichtet, dass sich der Schwerpunkt der Kampfbereitschaft verschiebt und das Proletariat zum Zentrum der Kämpfe wird. Aber so wie die Dinge derzeit liegen, wo ein Großteil des Proletariats sich nicht wirklich betroffen fühlt, haben wir weder die Größe noch das Ansehen, um in diese Richtung zu wirken. Aber unsere Priorität bleibt das in den Großbetrieben konzentrierte Proletariat. Diese Arbeiter fühlen sich von den Gelbwesten angezogen, außer vielleicht einige mit Migrationshintergrund, die das Gefühl haben, in dieser mehrheitlich weißen Bewegung keinen Platz zu haben und befürchten, dass diese teilweise rassistisch ist.

Wir kennen aus vielen Betrieben Arbeiter, die nach der Arbeit zu dieser oder jene Blockade flitzen und sei es nur, um dort ein bisschen Zeit zu verbringen. So sehr sie sich die Frage stellen, bei den Gelbwesten mitzumachen, so sehr scheint es ihnen gleichzeitig noch unmöglich, in ihrem Betrieb gegen ihren Boss loszuschlagen. Wir wissen nicht, ob die Bewegung der Gelbwesten wie die Studentenrevolte von 1968 in einen Generalstreik münden kann, aber es ist notwendig gegenüber den Arbeitenden die Notwendigkeit zu vertreten, zumal sie ja selber 1968 als Vorbild sehen.

Es geht nicht darum, jetzt ganz viel zu dieser oder jener Arbeitsniederlegung oder Demonstration aufzurufen. Wenn die Arbeitenden wirklich anfangen wollen zu streiken, werden sie es schaffen, dies zum Ausdruck zu bringen und es zu tun. Man muss vor allem da sein und diskutieren, Politik machen, mit ihnen als revolutionärer Kommunist reden. Und auch wenn unsere Arbeitskollegen sich nicht wehren wollen, so zählen dennoch die Diskussionen, die wir jetzt mit ihnen haben, doppelt. Viele stellen sich viele Fragen: Was soll man von dieser Bewegung halten? Welche Rolle kann die Gewalt spielen? Wohin kann das führen? Und wenn Macron zurücktritt, was würde das ändern?

Wir befinden uns jetzt in einer günstigen Zeit, um die Arbeitenden zu politisieren - viel günstiger als in jedem Wahlkampf. Eben weil sich viele Leute jetzt die Frage stellen, ob sie aktiv werden sollen, oder weil sie in ihrer Familie oder ihrer Nachbarschaft Leute kennen, die bei der Bewegung dabei sind. Das müssen wir nutzen, indem wir Politik machen, uns die Zeit nehmen zu diskutieren, politische Treffen anbieten und sei es auch nur für eine kleine Anzahl von Leuten.

Die Bewegung der Gelbwesten macht es auch möglich, in den Betrieben mit einem Milieu zu diskutieren, das sonst nicht politisch interessiert ist. In vielen Betrieben stehen gleichzeitig die Wahlen für den CSE (ganz vage mit den deutschen Betriebsräten zu vergleichen) an. So gibt es zig gewerkschaftliche Aufgaben zu erledigen, um die wir nicht herumkommen. Aber wir müssen Politik machen.

Die Politik der Gewerkschaftsorganisationen

Seit die Bewegung begonnen hat, gibt es lebhafte Diskussionen in den Gewerkschaften, weil die Führung wie die Aktivisten an der Basis sich über diese Frage untereinander streiten. Alle Gewerkschaftsverbände haben die Tatsache benutzt, dass einige Initiativen von der rechtsextremen Debout de la France ausgingen und von der RN unterstützt wurden, um die Bewegung schlecht zu reden, sich davon abzugrenzen und sie zu diskreditieren. Der Gewerkschaftssekretär der CGT, Martinez, hat erklärt: "Man kann sich unmöglich vorstellen, dass die CGT an der Seite der Front national demonstriert." Die CFDT und Sud haben quasi die gleiche Haltung eingenommen. Sie haben zehntausenden Frauen und Männern ein Etikett aufklebt, obwohl diese das selbst ablehnen und obwohl sie berechtigte Forderungen zum Ausdruck bringen.

In Wirklichkeit stehen die Gewerkschaftsführungen dieser Bewegung von Anfang an feindlich gegenüber, weil sie nicht von ihnen ausging und weil sie generell misstrauisch und verächtlich gegenüber den Massen sind. Das erinnert an das Verhalten der CGT gegenüber der Studentenbewegung im Mai 68. Was hier passiert, ist ein dramatisches Beispiel für das, worüber wir an anderer Stelle ausführlicher gesprochen haben: Dass die Gewerkschaftsorganisationen für die Arbeiter zu einer Bremse und einem Klotz am Bein geworden sind.

Seit Beginn der Bewegung hätten sie nun lange genug Zeit gehabt, ihre Haltung zu revidieren, auf den Zug aufzuspringen und eine Kampagne zu den Löhnen in allen Betrieben zu starten. Als ersten Schritt, um warm zu werden, hätten sie bekannt machen können, welche Bewegungen es hier und da zu Lohnforderungen gibt. Aber nein, sie haben nichts gemacht.

Nur dass wir uns nicht missverstehen: Wir fordern nicht die Gewerkschaftsverbände dazu auf, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Wir sind dafür, dass sich die Streikenden selbst organisieren und ihren Streik selbst leiten. Doch das steht nicht im Gegensatz zu der Tatsache, dass unsere Genossen, die in ihrem Betrieb gewerkschaftlich aktiv sind und eventuell Funktionen haben, gegen das ängstliche Verhalten der Gewerkschaften kämpfen, indem sie diskutieren und als Aktivisten des Klassenkampfs bei sich die Initiative ergreifen.

Zu der politischen Lehre der Gelbwesten gehört, dass in der Bewegung gesunde Reflexe zum Ausdruck kommen. Zum Beispiel gibt es viele Vorbehalte, Sprecher der Bewegung zu bestimmen und diesen zu vertrauen. Die Bitte eines der Sprecher, dass das Treffen mit dem Premierminister gefilmt werden soll, ist vielleicht auch bezeichnend für diese Haltung. Dahinter stecken mit Sicherheit auch manche kleinlichen Zwistigkeiten. Aber es gibt auch den Willen der Gelbwesten, alles zu kontrollieren, Transparenz durchzusetzen, damit die Dinge nicht hinter ihrem Rücken ablaufen. Die Regierung nennt dies Anarchie oder Desorganisation - wir nicht. Ganz anders als die Gewerkschaftsverantwortlichen, die sofort angelaufen kommen, wenn der Premierminister pfeift, beeilen sich die Sprecher der Gelbwesten nicht, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Und als endlich ein Treffen vereinbart war, sind sie nicht erschienen: Sie haben den Premierminister versetzt.

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Alles in der Gesellschaft drängt die Arbeitenden dahin zu denken, dass sie "Anwälte" oder professionelle "Verhandler" brauchen, die die Dinge für sie regeln. Genau das Gegenteil jedoch liegt im Interesse der Arbeiterklasse. Wenn viele Arbeitende nun die Erfahrung machen, dass sie sich von der Basis aus organisieren und kollektiv Druck aufbauen können, um ihre Interessen durchzusetzen, wenn sie die Erfahrung machen, dass sie sehr wohl in der Lage sind, sich selbst auszudrücken, zu argumentieren und zu kämpfen, und zwar auch auf den Fernsehbildschirmen und gegenüber erfahrenen Politikern, dann ist allein das schon etwas Gutes.

Und die Gelbwesten haben eine Sache verstanden, die die Gewerkschaftsführungen in Vergessenheit geraten lassen wollten, nämlich, dass das Wichtigste das Kräfteverhältnis ist. All das zeigt, was wir so oft wiederholen: Die Arbeitenden haben unglaubliche Mittel und wenn sie sich in Bewegung setzen, dann lernen sie schnell. Wenn die organisierte Arbeiterbewegung sich von all dem etwas annehmen könnte, wäre das schon ein Anfang!