Hinter dem Erstarken der Verschwörungstheorien liegt die extreme Rechte auf der Lauer (aus Lutte de Classe – Klassenkampf - von Februar 2021)

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Hinter dem Erstarken der Verschwörungstheorien liegt die extreme Rechte auf der Lauer
Februar 2021

Eine Folge der Coronakrise ist die zunehmende Bedeutung der Verschwörungs-“Theorien“, die eine wachsende Zahl an Anhänger finden. Hinter diesen Ideen versteckt sich die extreme Rechte.

Noch vor wenigen Jahren kaum verbreitet, wird der Begriff „Verschwörungstheorie“ heute täglich verwendet. Über seine vage Bedeutung hinaus – denn die Verschwörungs-“Theoretiker“ sind in Frankreich keine organisierte Strömung – benutzen die meisten bürgerlichen Politiker ihn als Schimpfwort für alle, die ihre Politik kritisieren: Es genügt mittlerweile, sich über die Praktiken der Pharmafirmen Fragen zu stellen oder das Management der Coronakrise durch die Regierung zu kritisieren, und schon wird man von den Wortführern der Partei Macrons uns anderer als Verschwörungstheoretiker beschimpft.

Ursprünglich bezeichnete man als Verschwörungstheoretiker diejenigen, die jede offizielle Erklärung eines sozialen, ökonomischen oder historischen Phänomens in Frage stellen und sie durch eine Erklärung ersetzen, die die „Eliten“ verheimlichen wollen würden. Alle Verschwörungstheorien haben gemeinsam, dass sie den beherrschenden Einfluss einer „Gruppe“ anprangern: internationale Institutionen, Milliardärszirkel, Juden usw., die unter größter Geheimhaltung alle Ereignisse steuern würden. Die Anhänger dieser „Theorien“ setzen sich zum Ziel, deren Machenschaften zu entlarven.

Wenn viele Verschwörungs-“Theorien“ auch völlig verrückt und aus diesem Grund auch kaum gefährlich sind (wie etwa diejenige, dass die Welt von einer Sekte des Illuminatenordens oder von außerirdischen Wesen beherrscht wird), so entwickelt sich heute eine gefährlichere Form des Verschwörungswahns, was zum Teil seinen Erfolg erklärt. Der Verschwörungswahn findet einen für seine Entwicklung günstigen Nährboden nicht nur in den von der Corona- und der Wirtschaftskrise hervorgerufenen Ängsten und Sorgen, sondern auch in dem grundsätzlich berechtigten Misstrauen, das die Politik der Herrschenden der kapitalistischen Welt bei den unteren Volksschichten erzeugt.

Eine Gesundheitskrise, die das Erstarken von Verschwörungstheorien begünstigt

Kaum hatte die Covid-19-Epidemie begonnen, sind diesbezüglich ziemlich unterschiedliche Verschwörungs-“Theorien“ aufgetaucht. Ihr erster gemeinsamer Nenner war zu behaupten, dass das Virus nicht natürlichen Ursprungs sei, sondern „in Labors entwickelt“ wurde –wahlweise von den Chinesen, Russen, Amerikanern, dem Pasteur-Institut oder den Juden.

Es mangelt nicht an Theorien, um zu erklären, warum diese oder jene geheime Gruppe die Pandemie angeblich auslösen wollte. In dem Film hold up von Pierre Barnérias erklärt die Soziologin Monique Pincon-Charlot, das Ziel sei, alle Armen zu töten. Andere erklären, man wolle alle alten Menschen töten und so das Problem der Überalterung der Bevölkerung lösen. Wieder andere, es sei ein Manöver des Nachbarn Russland, um China zu destabilisieren. Andere, heute viel weiter verbreitete „Theorien“, wollen beweisen, dass alles das Werk der Pharmaindustrie sei, um alle Menschen zu zwingen, sich impfen zu lassen. Der Impfstoff enthält ihrer Ansicht nach wahlweise entweder einen Wirkstoff, der einen dazu bringt, dem Staat zu gehorchen oder Mikrochips, die durch 5G aktiviert werden und es Bill Gates erlauben, jedes Individuum zu kontrollieren... und so weiter und so fort.

Es geht uns in diesem Artikel nicht darum, die diversen Verschwörungstheorien zu beschreiben, sondern darum zu verstehen, wie und warum sie solchen Erfolg haben – und welche Gefahren dies mit sich bringt.

Es ist unbestreitbar, dass diese Theorien insbesondere in der arbeitenden und ärmeren Bevölkerung einen echten Erfolg haben. Davon zeugt das Aufsehen, das der per Internet von mehreren Millionen gesehene Film Hold up hervorrief. Dieser behauptet, unter Missachtung der über 2 Millionen an Covid-19 gestorbenen Menschen, dass die Epidemie nichts als eine Erfindung von Bill Gates und der Pharmakonzerne sei. Sein Erfolg offenbart, dass jene, denen er gefallen hat, schon vorher von diesen Thesen überzeugt oder zumindest offen dafür waren.

In Deutschland wiederum hatten verschiedene Bewegungen Erfolg, die das Tragen von Masken ablehnen. Für sie ist das Virus eine Erfindung, um die individuelle Freiheit einzuschränken. Und diese Bewegung blieb nicht virtuell: Sie organisierten Demonstrationen, an denen zehntausende Menschen teilnahmen.

Die spektakulärste Entwicklung jedoch haben die Verschwörungstheorien in den USA erlebt, mit der Entwicklung verschiedener Strömungen, die in den letzten Monaten sehr aktiv waren. Unter ihnen die vollkommen verrückte Bewegung QAnon: Sie behautet, es gebe ein Komplott von Satanisten, die Kinder foltern und ermorden würden – und dass Donald Trump dieses Komplott bekämpfen würde. Man könnte darüber lachen, wenn sich unter den rechtsextremen Demonstranten, die am 6. Januar das Kapitol gestürmt haben, nicht mehrere Wortführer dieser Strömung befunden hätten, unter ihnen Jake Angeli, QAnon Schamane genannt. Seine Aufmachung als Clown mit Bisonhörnern kann kaum seine vielen Tattoos mit Neonazi-Emblemen und Symbolen der White Supremacy-Bewegung verdecken, die die angebliche Überlegenheit und den Herrschaftsanspruch der weißen Rasse proklamiert.

Vor drei Jahren schrieben wir als Fazit eines den Verschwörungstheorien gewidmeten Artikels: „[Die Verschwörungstheorien] sind oft lächerlich, aber es wäre ein fataler Irrtum, sie mit einem Lachen abzutun. Denn wenn sich die Krise weiter verschärft und in ihrem Kielwasser der politische und moralische Verfall zunimmt, kann es sehr gut sein, dass diese Ideologien an Stärke gewinnen und vielleicht dramatische Folgen haben.“ [1]

Es scheint, dass wir uns einer solchen Situation nähern.

Die Bourgeoisie und die Politiker in ihren Diensten tragen die Verantwortung für diese Entwicklung

Wenn es einfach ist, an Verschwörungen zu glauben, so zuallererst, weil Verschwörungen tatsächlich existieren. Das Buch La Françafrique von Francois-Xavier Verschave [2] erwähnt zahlreiche vom französischen Imperialismus eingefädelte Verschwörungen, um in seinen ehemaligen Kolonien Diktaturen an die Macht zu bringen, die seinen Interessen dienen. Oder diejenigen ermorden zu lassen, die nicht gehorsam genug sind. Eine solche Politik hat bis zum Völkermord in Ruanda geführt. Die anderen imperialistischen Länder stehen dem in nichts nach. So haben die USA unter der Hand zahlreiche Staatsstreiche in Lateinamerika initiiert.

Ja, viele Dinge geschehen im Geheimen! Das Geheimnis gehört zur normalen Funktionsweise des Kapitalismus, der das Bank-, Geschäfts- und Betriebsgeheimnis in den Rang eines unantastbaren Prinzips der Wirtschaft erhoben hat. Die Lügen zum Beispiel, die 2001 von den Verantwortlichen der katastrophalen Explosion der AZF-Fabrik in Toulouse verbreitet wurden, und selbst jene vom Brand der Fabrik Lubrizol 2019 in Rouen, geben verschwörungstheoretischen Gerüchten Nahrung: Denn die Kapitalisten weigern sich, auch nur eine Liste der Produkte zu veröffentlichen, die sie in ihren Fabriken gelagert hatten. Die Abschaffung der Wirtschaftsgeheimnisse, der Geheimdiplomatie – also die Arbeiterkontrolle – belegten schon immer einen der vorderen Plätze in den Programmen revolutionärer Kommunisten.

Und warum sollte man darüber erstaunt sein, dass heute ein großer Teil der Bevölkerung die Politiker und den Staat als professionelle Lügner betrachtet? Auch die ständigen Lügen der Regierung in der gegenwärtigen Krise geben den Verschwörungstheoretikern doch selber immer wieder neues Futter, sei es im Frühjahr 2020 die Lüge von den Masken, die angeblich „gar nichts nützen“ würden, bis hin zu den falschen Zahlen über Intensivstationsbetten oder Impfstoffe.

Die politischen Führer der Bourgeoisie sind Lügner, und sie sind es per definitionem. Denn kein bürgerlicher Politiker würde je gewählt, wenn er die Wahrheit sagen würde, nämlich dass er ein treuer Diener des großen Kapitals ist. Die Natur des bürgerlichen Staates – des „geschäftsführenden Ausschuss der Bourgeoisie“, wie Marx und Engels ihn beschrieben – machen das Lügen notwendig, um im kapitalistischen System die Macht auszuüben.

Ebenso legitim und angebracht ist das absolute Misstrauen gegenüber den Kapitalisten der Pharmaindustrie. Nicht gegenüber den Forschern, Wissenschaftlern und Arbeitern dort, aber gegenüber den Aktionären, die sich nicht die Bohne um die Gesundheit der Bevölkerung scheren. Sie investieren nur wegen des Profits. Die Skandale wie das mit HIV infizierte Blut, Medikamente wie Contergan, Dékapine oder die Brustimplantate von Mediator sind nur einige Beispiele, die deutlich machen, dass man den Kapitalisten nicht blind vertrauen darf. Sie sind durchaus in der Lage, um ihres Profites willen die Bevölkerung zu vergiften.

Es ist völlig legitim, allen Erklärungen der Kapitalisten und ihrer politischen Handlanger zu misstrauen, sie anzuzweifeln und in Frage zu stellen. Man könnte sogar sagen, dass dies das ABC des Klassenbewusstseins ist. Das Dramatische ist, dass diese Zweifel zur Unterstützung von Theorien führen, die nicht nur absurd, sondern meist auch reaktionär sind (Misstrauen gegenüber der Wissenschaft, Gleichsetzung von Kapitalisten und Juden...).

Die Intellektuellen zwischen Unterwerfung und Verachtung

Das Neue an den Verschwörungstheorien ist, dass sich jetzt auch Arbeiter von ihnen angezogen fühlen, die aus dem linken Lager kommen – weil diese Verschwörungstheorien so tun, als hätten sie einen antikapitalistischen Charakter.

Obwohl von Antikapitalismus zu sprechen übertrieben ist, denn keine verschwörungstheoretische Strömung stellt den Kapitalismus als System in Frage. Es werden einzelne Kapitalisten angegriffen. Entweder – bei den am stärksten von der extremen Rechten beeinflussten Strömungen – weil sie Juden sind. Oder weil sie Amerikaner sind, was bei französischen Linken besser ankommt. Bill Gates (Microsoft) und Jeff Bezos (Amazon) werden von den französischen Verschwörungstheoretikern viel häufiger angegriffen als Michel-Édouard Leclerc oder Bernard Arnault, obwohl diese kein Stück besser sind.

Der gegenwärtige Erfolg des Verschwörungswahns ist auch der Tatsache geschuldet, dass Intellektuelle, die bis vor kurzem noch als links galten, mehr oder weniger zu diesen Theorien abgleiten.

Das frappierendste Beispiel dieser Art intellektuellen und politischen Bankrotts ist Michel Onfray. Dieser Philosophieprofessor, einst bekannt dafür, in Caen eine „Volksuniversität“ gegründet zu haben, um Kultur zu verbreiten und so dem Einfluss des Front National entgegenzuwirken, ist heute ein leidenschaftlicher Verteidiger von Professor Raoult und zusammen mit Leuten der extremen Rechten Gründer einer nationalistischen Zeitschrift mit dem Namen Front populaire.

Zahlreiche andere Persönlichkeiten, die sich links nennen oder sich zumindest als humanistisch ausgeben, gehören zum Verschwörungsmilieu und dem so genannten „Widerstand gegen das Einheitsdenken und das System“, was ihnen Sympathie bei einem gewissen Teil der Unterdrückten einbringt. So der sympathisch wirkende junge Anästhesist Louis Fouché in Marseille, der sich rühmt „das erschöpfte und unterbezahlte Pflegepersonal“ zu verteidigen und „die Interessenkonflikte“ zwischen Pharmaindustrie und der medizinischen Welt anprangert. Er ist ein leidenschaftlicher Verschwörungsideologe und organisiert Demonstrationen gegen das Masketragen.

Andere, zum Teil angesehene Mediziner, fanden während dieser Krise große Beachtung, so der berühmte Professor Raoult, aber auch Christian Perronne, Laurent Toubiana und andere. Sie sind Stars der rechten und extrem rechten Presse und Nachrichtensender. Sie lösen einander quasi vor den Kameras ab und verharmlosen die Epidemie – so sehr, dass sie selbst dort als „Beschwichtige“ bezeichnet werden. Einige von ihnen, wie Professor Raoult oder Perronne, verfügen dabei über zahlreiche Diplome und sind in der medizinischen Welt relativ angesehen. Diese Mediziner haben einigen der Verschwörungsthesen pseudowissenschaftliche Rückendeckung gegeben; sie haben zu der Idee beigetragen, dass die Pandemie im Grunde nicht so schlimm sei. Diese Mediziner, die der konservativen Partei Les Républicains und der Unternehmerlobby nahestehen, sind letztlich zu Sprechern von Unternehmerkreisen geworden, die fanden, dass sie durch die Ausgangssperre und die nächtliche Sperrstunde zu viel Geld verlieren würden. Und die sich gewünscht hätten, man hätte die Krise à la Trump oder Bolsonaro gemanagt: sprich gegen „diese kleine Grippe“ gar nichts zu tun. Nebenbei waren eben diese Trump und Bolsonaro leidenschaftliche Anhänger der von Raoult empfohlenen Behandlung von Covid-19 mit dem Malariamittel Chloroquin.

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Es entwickeln sich derzeit auch Verbindungen zwischen manchen Strömungen der radikalen Umweltschutzbewegung, der Verschwörungstheoretiker und der extremen Rechten. Die Impfgegner sind genau wie die Gegner der 5 G-Mobilfunk-Technik aus radikalen Umweltbewegungen hervorgegangen und sie befinden sich heute mit Verschwörungstheoretikern im selben Boot.

Diese Lebenswege sind letztlich gar nicht so erstaunlich. Die Intellektuellen der Kleinbourgeoisie, die nacheinander Stalinisten, Maoisten, Mitterrand-Anhänger, Chirac-Anhänger und Grüne waren, werden heute zu Verschwörungstheoretikern und gucken in Richtung der extremen Rechten, wenn sie nicht sogar direkt bei ihnen aktiv werden. Sie lassen sich seit Jahrzehnten von der reaktionären Strömung der Gesellschaft mittragen.

Umgekehrt empört sich ein anderer Teil der Intelligentsia über das Erstarken der Verschwörungstheoretiker und lassen sich mit all der Verachtung ihrer sozialen Klasse in allen möglichen Pressekolumnen und in den sozialen Netzwerken über die „Idioten“ aus, die an Verschwörungstheorien glauben. Diese großen Geister, die sich von solchem Unsinn nicht beirren lassen würden, schimpfen über die „Dummheit der Massen“…Nur hat Verachtung niemals jemanden überzeugt. Außerdem ist es unerträglich, wie diese Leute den Verschwörungstheoretikern Moralpredigten halten, während sie an die Tugenden des Kapitalismus und der bürgerlichen Republik glauben und bereit sind, alle Lügen der Politiker zu verbreiten.

Orientierungsverlust und Demoralisierung

Es ist mit dem Verschwörungswahn wie mit allen reaktionären Ideen: um diese Phänomene zu begreifen und um zu versuchen, sie zu bekämpfen, muss man zwei Dinge unterscheiden: einerseits die politischen Kräften, die am Werk sind und diese Ideen verbreiten, und andererseits die Leute, die ihnen mehr oder weniger aktiv zustimmen.

Wie die Religion ist der Verfolgungswahn eine Art Antwort auf den Orientierungsverlust, die Verzweiflung, die Angst, und in gewisser Weise auf die Wut, die mehr und mehr Unterdrückte angesichts des Kapitalismus empfinden. Er entspricht dem Bedürfnis, eine Erklärung für die aktuelle Katastrophe zu haben. Für eine Situation, in der die Arbeiter den Eindruck haben, von einem Drama ins nächste geworfen zu werden: vom Terrorismus in die Pandemie, von Massenentlassungen in den Klimawandel. Angesichts dieses Gefühls, ein ohnmächtiges Opfer zu sein, bieten die Verschwörungstheorien die Illusion zu verstehen.

Der Verfolgungswahn gedeiht auf den Ruinen der Arbeiterbewegung, auf dem Fehlen einer zusammenhängenden, konstruktiven Antwort, die in der Lage wäre, der von der Gewalt der Krise betäubten arbeitenden Bevölkerung Perspektiven zu geben.

Mangels Ideen und Perspektiven wenden sich heute viele Arbeiter denjenigen zu, die am lautesten schreien, um die ungerechte und unerträgliche Gesellschaft anzuprangern – selbst wenn sie dies auf irrationale und reaktionäre Weise tun. Verschwörungstheorien zu verbreiten mit dem Ziel, die Unterdrückten gegen einen gemeinsamen Sündenbock zu versammeln, ist dabei nichts Neues. Erinnern wir uns daran, wie die Nazis Millionen Menschen hinter der Idee einer weltweiten Juden- und Freimaurerverschwörung versammelt haben und wie sie, um die Sympathie der Massen zu gewinnen, dieser Ideologie den Anstrich von Reichen-Kritik und sogar von Sozialismus verpasst haben.

Das Milieu der Gelbwesten ist besonders begierig nach solchen Theorien und verbreitet sie eifrig. Tausende Frauen und Männer waren monatelang auf der Straße, doch ihre Mobilisierung endete in einer Sackgasse. Es ist nur logisch, dass sie gerne bereit sind zu glauben, an ihrer Niederlage sei eine Verschwörung schuld, organisiert von mächtigeren Kräften als sie selbst... statt nach den politischen Ursachen der Sackgasse zu suchen.

Viele Verschwörungstheoretiker sind überzeugt, dass ihr Verschwörungswahn eine Form von Antikapitalismus sei. Der deutsche Sozialist August Bebel sagte am Ende des 19. Jahrhunderts „Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls“. Man könnte es auch in anderen Worten sagen: Verschwörungswahn ist in gewisser Weise der Antikapitalismus der Verzweifelten. Aber genau wie der Antisemitismus ist er reaktionär und voller Gefahren.

Das trojanische Pferd der extremen Rechten

Der Verschwörungswahn wird von der extremen Rechten als trojanisches Pferd benutzt, um in Milieus einzudringen, die ihm bislang verschlossen waren.

In Deutschland und den USA ist die aktive Beteiligung von Aktivisten der organisierten extremen Rechten in den Netzwerken der Verschwörungstheoretiker offensichtlich und man steht dazu. In Frankreich ist es nicht anders. Man muss nicht lange am antikapitalistischen Lack zahlreicher Wortführer dieses Milieus kratzen, um den Antisemitismus dahinter zum Vorschein kommen zu sehen – oder auch den „Libertarismus“, dieser aus den USA stammenden Ideologie, die proklamiert, dass die Freiheit des Individuums über allen Interessen der Gemeinschaft steht.

Der Verschwörungswahn entspricht in vielerlei Hinsicht der Definition, die Trotzki 1933 vom deutschen Faschismus gab. Er verglich ihn mit einem Krämerladen in einer armen Gegend auf dem Land: „Was gibt es dort nicht alles, zu noch niedrigeren Preisen und in noch schlechterer Qualität! Der ganze Unrat des internationalen politischen Denkens ist gekommen, um die intellektuelle Schatzkammer [dieses] neuen Messianismus zu füllen.“ [3]

Man kann dasselbe von den heutigen Verschwörungstheorien sagen: ein Mischmasch aus unverdautem Antikapitalismus, der sich oft mit offenem Antisemitismus paart, aus Umweltschutz, aus Ideen der Wachstumsgegner, Ablehnung der Wissenschaft und des medizinischen Fortschritts, aus Esoterik und manchmal Religion. Dieser ungenießbare Cocktail kann den Arbeitern keine ernsthafte Perspektive geben, um die Gesellschaft zu ändern, aber er gibt vielen die Illusion, radikal zu sein.

Eine andere Entwicklung der letzten Zeit ist, dass die Verschwörungstheoretiker, die sich lange Zeit auf sterile Kritik im Internet beschränkten, jetzt versuchen, zur Tat überzugehen. In den letzten Jahren konnte man annehmen, dass die Verschwörungstheorien eigentlich nur zu Resignation führen können, da sie schließlich Gruppen anprangern, die sowohl geheim als auch allmächtig und damit unmöglich zu bekämpfen waren. Jetzt ist dem nicht mehr so. Schon vor dem Sturm auf das US-Kapitol hatten die Rechtsextremen, die in Deutschland den Verschwörungswahn benutzen, im August 2020 versucht, den Reichstag zu stürmen. In den letzten Monaten kommt es in Europa zur Zerstörung von Mobilfunkantennen, meist in Zusammenhang mit den Gerüchten, dass G5 zur Kontrolle des Gedanken benutzt würde. Eine Reihe Ärzte berichten in der Presse davon, dass sie Morddrohungen erhalten haben, weil sie Chloroquin kritisiert und die Impfung empfohlen haben.

Es ist durchaus möglich, dass in dieser Zeit des Zerfalls Aktionen dieser Art insbesondere auf junge Leute anziehend wirken können. Und vielleicht wird man in den kommenden Wochen von Verschwörungstheoretikern beeinflusste Gruppen erleben, die Impfzentren angreifen.

In den USA sind solche Gruppen, deren Propaganda aus einem Gemisch von Faschismus und Verschwörungswahn besteht (so prangern sie ein angeblich von Schwarzen geschmiedetes Komplott zur Ausrottung der Weißen an), bereit zur Tat überzugehen. Und sie haben bereits damit angefangen: Während der Invasion des Kapitols marschierten die Aktivisten der „Oath Keepers“ (Wächter des Schwurs) im Kampfanzug auf – eine paramilitärische Gruppe hauptsächlich von Armee-Veteranen, deren Steckenpferd der Kampf gegen die „sozialistische Verschwörung der neuen Weltordnung“ ist. Ebenfalls marschierten die „Proud Boys“ auf, von denen einer der Anführer kürzlich mit einem Schnellfeuergewehr in der Hand im Fernsehen auftrat, bekleidet mit einem T-Shirt mit der Aufschrift: „Der Baum der Freiheit muss ab und zu mit dem Blut von Kommunisten gewässert werden.

Durch den Aufbau einer revolutionären Partei den Verschwörungswahn bekämpfen

Hier haben wir es noch nicht mit solchen bewaffneten Gruppen zu tun. Aber jeder Aktivist, der kommunistische Ideen vertritt, hatte seit Beginn der Coronakrise mit Menschen zu tun, die von Verschwörungstheorien beeinflusst wurden.

Es ist recht schwierig, wenn nicht gar unmöglich, auf deren Argumente zu antworten, da sie im Allgemeinen irrational sind.

So wie die religiösen Eiferer haben auch die überzeugten Verschwörungstheoretiker auf alles eine Antwort. Mehr noch: Sie sind überzeugt, dass diejenigen, die ihren Theorien nicht glauben, bereits Opfer der Verschwörung und ihrer Hirnwäsche geworden sind.

Zu glauben, dass die Kapitalisten Covid-19 geschaffen hätten, während die Pandemie so bedeutende Sektoren der Wirtschaft wie die Luftfahrt, die Flugzeugindustrie und den Tourismus in die Knie gezwungen hat, ist absurd. Ebenso absurd ist es, ihnen eine Art absolute Macht zuzuschreiben, zu glauben, sie könnten alles kontrollieren, wo doch ein Hauptkennzeichen dieses Wirtschaftssystems das Fehlen von Planung ist und seine Unfähigkeit, sich selbst zu kontrollieren.

Aber auch mit noch so vielen guten rationalen Argumente kann man die Anhänger der Verschwörungstheorien (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) nicht überzeugen. Die zahlreichen Journalisten und Wissenschaftler, die mit pädagogischer Aufklärung versuchen, diesem Wahn entgegenzutreten sind sicherlich guten Willens, aber sie führen einen vergeblichen Kampf. Man bekämpft soziale Phänomene und eine aufbrandende politische Strömung nicht mit Argumenten in Zeitungen oder im Internet. Und die zahllosen Artikel, die minutiös die Argumente des Films Hold-up widerlegen, hatten bei weitem nicht den gleichen Einfluss wie der Film selber.

Wir sind weder Idealisten noch Anhänger der Philosophie der Aufklärung, dieser Philosophen, die im 18. Jahrhundert dachten, dass die Vernunft die Welt erleuchten würde. Der Erfolg, den politische Strömungen haben, hat eine materielle, soziale und ökonomische Basis. Die leider erfolgreichen Ideologien wie Rassismus, Protektionismus, religiöser Fundamentalismus, Ablehnung der „Sozialschmarotzer“ und Verschwörungswahn sind ein Zeichen für den Rückgang des Bewusstseins in der Arbeiterklasse. Dieser Rückgang ist die Frucht der Verschärfung der Krise bei gleichzeitigem Fehlen einer einflussreichen wirklich kommunistischen Partei. Angesichts des Erstarkens dieser verschiedenen Strömungen müssen wir dafür kämpfen, das Klassenbewusstsein wieder zu stärken, müssen unermüdlich unsere Ideen verteidigen und versuchen, die Arbeiter und die Jugend von der Notwendigkeit des Sturzes der Bourgeoisie zu überzeugen. Und wir müssen eine Partei aufzubauen, die in der Lage ist Perspektiven zu geben und diejenigen Unterdrückten anzuziehen, die diese Gesellschaft empört. Die Verschwörungstheorien sind ebenso unvereinbar mit dem Kommunismus wie Religion und Rassismus.

Aber wenn in der Zukunft soziale Umwälzungen stattfinden werden, dann werden sie auch diejenigen mit sich reißen, die sich heute von dem Gerede der Verschwörungstheoretiker überzeugen lassen. Wie alle anderen Vorurteile werden diese erst dann wirklich verschwinden, wenn die Menschheit in ein anderes Stadium der Geschichte übergeht. Erst wenn die Massen nicht mehr das Gefühl haben, Spielball von Kräften zu sein, die sie nicht kontrollieren können, weil sie selber an der Macht sind, dann können diese Vorurteile wirklich verschwinden.

Wie viele russische Arbeiter und Bauern waren 1917 und in den folgenden Jahren von antisemitischen Vorurteilen geprägt? Wie viele Arbeiter nehmen trotz ihrer rassistischen, religiösen und Verschwörungsideen an großen Streiks teil? Im Laufe dieser Kämpfe – besonders wenn sie siegreich sind – gehen diese Vorurteile zurück, und kommunistische Aktivisten können Einfluss gewinnen.

Natürlich muss man heute schon gegen solche Ideologien kämpfen. Jeder kommunistische Aktivist versucht, den Nebel in den Köpfen zu zerstreuen und den Arbeitern „die Wissenschaft unseres Unglücks“ zu lehren, wie der revolutionäre Gewerkschafter Pelletier es ausdrückte. Das heißt, wir versuchen vor allem davon zu überzeugen, dass die Lösung nicht in verschwörungstheoretischen Phantasmen zu finden ist, sondern im Marxismus, das heißt im Verständnis der Funktionsweise dieses Systems und in der Perspektive einer kollektiven Emanzipation durch die soziale Revolution.

Und vielleicht ist es heute möglich, sich auf das Misstrauen und auf den tiefen Hass, den der Staat bei zahlreichen Arbeitern hervorruft zu stützen, um sie von unseren Ideen zu überzeugen und ihnen zu helfen, klar zwischen Verschwörungsunsinn und revolutionären Ideen zu unterscheiden.

Das Erstarken dieser Ideen, der Einfluss, den sie in den einfachen Bevölkerungsschichten gewinnen, ebenso wie die Ereignissen, die sich in den letzten Wochen in den USA abgespielt haben, sind eine Warnung. In dieser Situation ist es fruchtlos zu verzweifeln. Mehr denn je ist es unerlässlich, für den Wiederaufbau einer revolutionär kommunistischen Partei aktiv zu sein.

25. Januar 2021

 

[1] Lutte de classe, no 187, novembre 2017.

[2] François-Xavier Verschave, La Françafrique – Le plus long scandale de la République, Stock, 1998.

[3] Trotsky, Porträt des Nationalsozialismus (10.6.1933).