Bericht über die Lage in Deutschland (aus Lutte de Classe von Dezember 2021):

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Bericht über die Lage in Deutschland
Dezember 2021

Bericht über die Lage in Deutschland bei dem Parteitag von Lutte Ouvrière (Dezember 2021):

 

Die Koalition aus SPD, Grünen und Liberalen

Am Wochenende des 4. und 5. Dezember haben die Parteitage von SPD und FDP die Ampel-Koalition mit Olaf Scholz als Kanzler offiziell bestätigt. Noch vor einem Jahr schien dies unvorstellbar, so niedrig waren die Umfragewerte der SPD.

Doch die CDU lieferte sich zunächst eine Schlammschlacht darum, wer nach Merkel ihr neuer Kanzlerkandidat werden sollte. Und dann stellte sie mit Armin Laschet einen Kandidaten auf, der es schaffte, seinen Karrierismus, seine Inkompetenz und seine soziale Verachtung so offen zur Schau zu stellen, dass die CDU innerhalb von sechs Monaten von 36% auf 24% abstürzte. So konnte die SPD die Wahlen schließlich knapp gewinnen.

Scholz wird also Kanzler. Er hat bereits acht Jahre unter Merkel regiert, zuerst als Arbeitsminister, wo er die Rente mit 67 einführte, und dann als Finanzminister.

Die Regierung, die er nun bildet, ist eine Koalition aus drei Parteien: SPD, Grüne und FDP. Letztere ist das wahrhaft karikaturale Sprachrohr der Unternehmer, ihr Leitmotiv die angebliche „Verteidigung der individuellen Freiheiten“ gegen jede „staatliche Einmischung“, sei es bei Löhnen, Steuern oder Umweltstandards. Selbst ein Tempolimit auf Autobahnen ist für die FDP ein unerträglicher Eingriff in die Freiheit. Ihr Wahlprogramm war entsprechend ziemlich entgegengesetzt zu dem der SPD und der Grünen, was die drei jedoch nicht daran hindert, gemeinsam zu regieren.

Arbeiterfeindliche Angriffe unter dem Vorwand des Umweltschutzes

Als erste Maßnahmen kündigte die neue Koalition unter anderem an, den Acht-Stunden-Tag und die obligatorische elfstündige Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen in Frage zu stellen, einen kapitalgedeckten Bestandteil in der gesetzlichen Rente einzuführen und die Privatisierung der Bahn weiter voranzutreiben. Das Herzstück ihres Programms sind jedoch riesige Geschenke an die Kapitalisten, in der Größenordnung von 500 Milliarden Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren. Der Vorwand? Sie bei der „ökologischen Transformation“ zu unterstützen!

Der sogenannte „Kampf gegen den Klimawandel“ ist das Etikett, das sich die neue Koalition gegeben hat. Dieses Thema hatte bereits den gesamten Wahlkampf beherrscht. Konkret bedeutet dies: Die Angriffe auf die Arbeitenden und Geschenke an die Kapitalisten werden in erster Linie dadurch gerechtfertigt werden, dass man sie als notwendige Maßnahmen zum Schutz der Umwelt präsentiert. Das Wirtschaftsministerium, das in ein „Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz“ umgewandelt wurde, wird mit Habeck einem führenden Vertreter der Grünen anvertraut, ebenso wie das Außenministerium, dessen Ministerin Baerbock offiziell damit beauftragt ist, der deutschen Industrie beim Export ihrer fortschrittlichen „grünen Technologien“ zu helfen.

Auch auf Seiten der Unternehmer ist die Energiewende zum Vorwand Nummer eins für Entlassungen und Werksschließungen in den Schlüsselsektoren der deutschen Wirtschaft geworden: Automobil- und Stahlindustrie, Maschinenbau und Energiewirtschaft. Von Bosch bis Continental, von ThyssenKrupp bis Siemens - alle kündigen im Namen des ökologischen Wandels Werksschließungen, Stellenabbau und andere Angriffe an.

Grenzenlose Komplizenschaft der Gewerkschaften

Dabei werden sie von den Gewerkschaftsführungen aktiv unterstützt. In der Metallindustrie erklärt die IG Metall beispielsweise, dass die „Transformation“ zwangsläufig lange Phasen der Unterbeschäftigung schaffen würde und dass man, um Entlassungen zu vermeiden, die Arbeitszeit vorübergehend verkürzen müsse, und zwar auf 32 Stunden, allerdings mit Lohnkürzungen. So organisierte die IG Metall im Rahmen der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie massive Warnstreiks, die letztlich „erzwangen“ … dass die Bosse das Recht haben, die Arbeitszeit und die Löhne zu kürzen, wenn es ihnen passt! Was sie natürlich nicht daran hindert, gleichzeitig weiter zu entlassen und Stellen abzubauen.

Und am 29. Oktober mobilisierte die IG Metall 50.000 Arbeitende im ganzen Land, um von der Regierung 500 Milliarden Euro an öffentlichen Investitionen in die grüne und digitale Transformation zu fordern (was übersetzt nichts anderes als weitere Milliardengeschenke an die Bosse bedeutet) – laut der IG Metall die einzige Garantie, wie beim ökologischen Umbau Entlassungen verhindert werden könnten.

Ja, die IG Metall hat es ernsthaft gewagt, noch mehr öffentliches Geld für die Kapitalisten zu fordern – und das zu einem Zeitpunkt, da die deutsche Industrie trotz des Produktionsrückgangs, der vor allem auf den Mangel an Rohstoffen und Teilen zurückzuführen ist, Rekordgewinne verzeichnet. Zu einem Zeitpunkt, wo das Beispiel des Daimler-Konzerns, der großzügig Dividenden ausschüttet, während er gleichzeitig Milliarden an Subventionen kassiert und sich Kurzarbeit bezahlen lässt – und dabei natürlich gleichzeitig auch noch massiv Arbeitsplätze abbaut – wirklich viele Menschen empört hat.

Eine Politik, die die extreme Rechte begünstigt

In Ermangelung einer Klassenperspektive ist es die AfD, die versucht, sich als Sprecherin aller kleinen Leute zu positionieren, die unter den Preissteigerungen und Entlassungen zu leiden haben. Sie hat in ihrem Wahlkampf die Klimaschutzmaßnahmen und die Grünen als Verantwortliche für steigende Preise und die Verschlechterungen für die Arbeitenden in der Industrie hingestellt. Eine faschistische Gruppe mit dem Namen „Dritter Weg“ hatte sogar Plakate mit der Aufschrift „Hängt die Grünen“. Und leider kann man feststellen, dass diese rechtsextreme Propaganda bei einem Teil der Arbeiterklasse ein wenig ankommt. Bei unseren Aktivitäten treffen wir zum Beispiel auf sehr arme Rentner, denen seit der Explosion der Preise das Wasser bis zum Hals steht und die dafür... die jungen Leute von Fridays for Future verantwortlich machen. Die Arbeiterklasse ist also gefangen zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften auf der einen Seite, die sie unter dem Vorwand, die Menschheit zu retten, angreifen – und der extremen Rechten auf der anderen Seite, die mit noch gefährlicheren Ideen so tut, als würde sie die Arbeiterklasse verteidigen.

Eine ähnliche Gemengelage bezüglich der Pandemie – und einzelner Widerstand aus der Arbeiterklasse

Dieses Dilemma findet sich auch in den politischen Auseinandersetzungen rund um die Pandemie wieder, deren aktuelle Welle schlimmer ist als die vorherigen. Zum ersten Mal müssen Kranke in andere Regionen verlegt werden. Diese Situation wird noch dadurch verschärft, dass es in diesem Jahr 4.000 Intensivbetten weniger gibt, während die Regierung weiterhin Krankenhäuser schließt. Diese ganze Situation hat in den Krankenhäusern ein Stück weit Empörung und Proteststimmung geschürt, was sich kürzlich bei den Tarifverhandlungen in den Universitätskliniken gezeigt hat. Anstatt wie üblich ein oder zwei Tage lang ritualisiert die Arbeit niederzulegen, drängte ein Teil der Beschäftigten darauf, zwei, drei oder vier Tage am Stück zu streiken, in der nächsten Woche erneut zu streiken usw., um ihre Empörung über die Arbeitsbedingungen und die unzureichenden Löhne zum Ausdruck zu bringen. Die herrschenden Politiker und Medien bezeichneten sie als „verantwortungslos“, weil sie inmitten der neuen Coronawelle streiken – was ihre Empörung nur verstärkt hat.

Wirklich charakteristisch für die Haltung der Regierung in der Pandemie seit dem Herbst 2020 war die abgeblasene Osterruhe. Um eine neue Welle einzudämmen, hatte sie angekündigt, das Osterwochenende zu verlängern, das heißt alles, auch die Fabriken, für fünf Tage stillzulegen. Die Arbeitenden, die ein paar zusätzliche bezahlte Urlaubstage bekommen hätten, waren natürlich zufrieden. Doch kaum war die Ankündigung gemacht, gab es ein Treffen mit den Bossen der Autoindustrie, woraufhin die Regierung die Maßnahme zurücknahm und stattdessen die Menschen dazu aufrief, verantwortungsvoll zu handeln und Kontakte zu vermeiden ... an den Feiertagen. Die beste Antwort gaben Arbeitende von Amazon, die als Ersatz für zusätzliche Urlaubstage an diesen Tagen streikten.

Wir haben diese und andere Beispiele hervorgehoben, um in unserem Umfeld eine Klassenperspektive zu vermitteln. Aber außerhalb des Milieus, das wir erreichen können, ist auch hier die einzige Alternative, die der Arbeiterklasse geboten wird, die Wahl zwischen einerseits der Logik der Bosse und der politischen Parteien, die uns ihren verantwortungslosen Umgang mit der Pandemie aufzwingen und sie zur Rechtfertigung von Angriffen nutzen – und andererseits der Logik der extremen Rechten.

Nachdem sich die extreme Rechte bereits im Sommer 2020 zum politischen Sprachrohr der Anti-Masken-Proteste aufgeschwungen hatte, hat sie den Kampf gegen jegliche Schutzmaßnahmen und gegen die Impfungen zu ihrem zweiten Steckenpferd gemacht. Und auch sich dies für sie wahltaktisch nicht wirklich ausgezahlt hat, so hat es doch Konsequenzen. Die Regionen, in denen die extreme Rechte besonders stark ist, sind auch die Regionen, in denen die Impfquote am niedrigsten ist und wie in Sachsen unter 60% liegt. Wenn die aktuelle Diskussion der Regierung um eine allgemeine Impfpflicht Proteste hervorruft, so ist es sehr wahrscheinlich, dass die Reaktionen vor allem in diesen Regionen stattfinden werden; was es für die extreme Rechte besonders einfach machen wird, davon zu profitieren. Außerdem sind durch die aggressive Anti-Masken- und Anti-Impf-Kampagne der extremen Rechten weitere Typen zu ihr gestoßen, die bereit sind zur Tat zu schreiten – wie den Mann, der einen Tankstellenverkäufer ermordete, nur weil dieser ihn aufforderte, seine Maske aufzusetzen.

Reformistische Linke ... gegen Migranten

Was Die Linke betrifft, so hat ihre bekannteste Sprecherin Sahra Wagenknecht, die lange Zeit als besonders links galt, einen Skandal ausgelöst, als sie ein Buch veröffentlichte, in dem sie ihrer Partei vorwarf, den ökologischen und kleinbürgerlichen Strömungen zu folgen und die wahren Anliegen der Arbeiterklasse zu verachten. Doch welche Alternative gibt sie? Erklärungen, dass sie sich weigert, sich impfen zu lassen, und ein sogenanntes Programm zur Verteidigung der Arbeitenden, das unter anderem... die Schließung der Grenzen für Flüchtlinge und Arbeitende aus Osteuropa. Die AfD hat die Gelegenheit genutzt, um ihre Übereinstimmung mit Wagenknecht in diesem Punkt zu betonen.

Kämpfe migrantischer Arbeitender

Gerade von diesen migrantischen Arbeitenden kamen in diesem Jahr einige ungewöhnliche Reaktionen. In den Schlachthöfen haben die Cluster mit Tausenden von Coronakranken und mehreren Toten die Aufmerksamkeit auf die Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter gelenkt, die fast ausschließlich aus Bulgarien und Rumänien kommen. Angesichts der allgemeinen Empörung führte die Regierung ein Gesetz ein, das die Unternehmer zwang, diese Arbeiter direkt einzustellen und statt über Subunternehmer. Diese Status-Änderung änderte jedoch nichts an ihrer Ausbeutung. Daraufhin traten Hunderte von ihnen an verschiedenen Orten in den Streik und erzwangen einen Mindestlohn von 11 Euro und einen Tarifvertrag. Und seitdem gab es mehrere spontane Arbeitsniederlegungen, um dessen Anwendung durchzusetzen.

Darüber hinaus gibt es beim Lieferdienst Gorillas eine Bewegung von Arbeitern – fast ausschließlich Migranten und prekär Beschäftigte – die mit dem Fahrrad Einkäufe nach Hause liefern. In Berlin organisierten sie sich nach einigen spontanen Arbeitsniederlegungen und streikten Anfang Oktober in mehreren Lagern, wobei sie in Vollversammlungen über ihre Forderungen abstimmten. Einfach so zu streiken, ohne Anruf einer Gewerkschaft, die im Voraus die Forderungen festgelegt hat, ist in Deutschland schlichtweg illegal. Da die streikenden Migranten in dieses deutsche System nicht „integriert“ waren, hatten sie weniger Schwierigkeiten, diese rechtliche Hürde zu überwinden. Sie streikten einfach so, wie sie es von zu Hause her kannten. Vielleicht auch aus Sorge, dass dies andere Arbeitnehmer auf Ideen bringen könnte, reagierte der Unternehmer brutal und entließ 350 Streikende. Bisher hat dies den Protest jedoch nicht erstickt.

Auf einer ganz anderen Ebene erhielt im September der im Zuge der Bewegung gegen die massiven Mietpreissteigerungen in Berlin entstandene Volksentscheid, der die Enteignung der großen Wohnungsgesellschaften forderte, 56% der Wählerstimmen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass dieser Beschluss nicht umgesetzt werden wird. Aber sie ist für uns interessant. In Deutschland, wo der Antikommunismus immer noch stark verwurzelt ist, rufen solche Ideen und Worte wie Enteignung normalerweise Misstrauen und Ablehnung hervor, auch weil sie oft mit der DDR assoziiert werden. Diesmal besiegte die brutale Gier der Wohnungsgesellschaften diese Vorurteile und überzeugte die Demonstranten davon, dass angesichts der „Immobilienhaie“ nur radikale Lösungen wirksam sein würden.