Kampfkraft der Massen und revolutionäre Führung

إطبع
Texte des Parteitages von Lutte Ouvrière im Dezember 2022
Dezember 2022

Der folgende Text wurde auf dem Parteitag von Lutte Ouvrière im Dezember 2022 verabschiedet und in der zweimonatlichen Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.228, Dezember 2022/Januar 2023) veröffentlicht.

 

Angesichts der anhaltenden und sich vertiefenden Krise des kapitalistischen Systems hat es in den letzten Jahren weltweit nicht an Reaktionen der Arbeitenden und der ärmeren Massen gemangelt. Einige von ihnen waren regelrechte soziale Explosionen.

Ohne weiter in der Zeit zurückzugehen: Erinnern wir uns an die Bewegungen des „Arabischen Frühlings“ in den Jahren 2010-2011. Sie entstanden aus einer tiefen gesellschaftlichen Unzufriedenheit und führten zum Sturz von Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten. Diese Ereignisse waren verbunden mit der Hoffnung, dass die politische Veränderung auch zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse führen würde. Wir wissen, wie sehr diese Hoffnungen enttäuscht wurden. Innerhalb weniger Jahre erlebten sie die Rückkehr einer noch schlimmeren Diktatur in Ägypten und eine Entwicklung des tunesischen Regimes in dieselbe Richtung, während sich die Lage der Volksmassen noch weiter verschlechterte. Doch die gesamte Region wurde angesteckt, es kam zu Bewegungen in Libyen, Syrien, dem Jemen und sogar in den Vereinigten Arabischen Emiraten, was zu militärischen Interventionen und Kriegen führte.

2019 erlebte Algerien die sogenannte „Hirak“-Bewegung, bei der es über mehrere Monate hinweg wöchentlich zu Massendemonstrationen der Bevölkerung kam. Auch hier basierte die Bewegung auf einer tiefen sozialen Unzufriedenheit, und das politische Ziel "Regime, verschwinde" wurde monatelang einhellig von allen Protestierenden geteilt, bevor es den Machthabern gelang, wieder die Oberhand zu gewinnen. Auch wenn die Bewegung letztendlich zurückgegangen ist, werden die sozialen Forderungen dennoch weiterhin gestellt.

Eine weitere Bewegung hat den Sudan insbesondere seit 2019 erschüttert und ist noch lange nicht vollständig erstickt. Ausgehend von einem Protest gegen die Erhöhung der Brotpreise Ende 2018 erreichte sie den Sturz der Diktatur von Omar al-Baschir, der von der Armee und einer islamistischen Partei unterstützt wurde. Die blutige Niederschlagung durch das Militär am 3. Juni 2019 konnte die Massenbewegung nicht brechen. Die Proteste gingen trotz der Unterdrückung weiter – rund um demokratische Forderungen, die von einer kleinbürgerlichen Führung formuliert wurden, die von der Sudanesischen Vereinigung der Gewerbetreibenden (SPA) vertreten wurde.

Im selben Teil der Welt kam es im Libanon und im Irak vor allem seit dem Jahr 2019 zu großen Kämpfen der Bevölkerung. Die palästinensischen Araber in den von Israel besetzten Gebieten, aber auch in Israel selbst, demonstrieren weiterhin häufig gegen das ihnen auferlegte Regime. Vor allem aber ist der Iran zu nennen, wo 2017-2018 und 2019 Revolten aufflammten, parallel zu einer Reihe von Arbeiterkämpfen. Und in diesem Herbst ist das Land nun Schauplatz eines großflächigen Wutausbruchs nach der Ermordung eines jungen Mädchens durch die Sittenpolizei, die ihr vorwarf, ihren Schleier falsch zu tragen. Über die Situation der Frauen hinaus, denen diese Polizei ihre moralische Ordnung aufzwingen will und dabei auch vor Gewaltanwendung nicht zurückschreckt, wird auch die Diktatur der islamischen Republik selbst in Frage gestellt.

Die Reaktionen der Massen beschränkten sich nicht auf den Nahen Osten. Sri-Lanka war in diesem Frühjahr und Sommer Schauplatz einer tiefgreifenden Revolte, Indien einer großen Mobilmachung der Bauern gegen die Politik der Regierung Modi. In Chile kam es 2019 zu einer regelrechten sozialen Explosion, die von Protesten gegen die Erhöhung der Transportpreise ausging. In Myanmar hat der Staatsstreich vom Februar 2021 eine massive Gegenreaktion hervorgerufen, in der die Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle gespielt hat.

In Kasachstan begann das Jahr 2022 mit einer sozialen Explosion gegen die steigenden Energiepreise, bei der wie schon vor zehn Jahren die Öl- und Gasarbeiter die Speerspitze bildeten. Die Bewegung griff auf alle industriellen und städtischen Zentren über, breite Volksschichten schlossen sich dem Protest gegen die Diktatur an. Die weitgehend spontane Bewegung blieb ohne eine andere Führung als einige sich als Demokraten verstehende Politiker und mehr oder weniger radikale reformistische Gewerkschafter. Selbst auf ihrem Höhepunkt, als die Machthaber die großen Städte nicht mehr unter ihrer Kontrolle hatten, trat keine Kraft in Erscheinung, die der großen, kämpferischen und konzentrierten Arbeiterklasse die Perspektive hätte eröffnen können, das Regime zu stürzen und ihre eigene Macht zu errichten. Sie stand ohnmächtig und entwaffnet dar, mehr noch politisch als materiell, als Putin seine Truppen zur Niederschlagung der Bewegung schickte, um die Interessen der kasachischen und der russischen Bürokratie sowie der großen westlichen Öl- und Bergbaukonzerne im Land zu wahren.

Was in Kasachstan geschah war eine Wiederholung dessen, was 2020 in Belarus geschehen war. Eine zahlenmäßig und wirtschaftlich starke Arbeiterklasse, die jedoch keine revolutionäre politische Führung hatte, war dort Initiatorin und Kern einer breiten und langanhaltenden Protestbewegung gegen das Regime, die bei den Arbeitern in den Nachbarländern Widerhall fand, aber aufgrund der Repression und mangelnder Perspektiven schließlich erlosch.

Es mangelt also nicht an der Kampfbereitschaft der Massen. Von einem Land zum anderen, von einer Situation zur anderen, angesichts von Zuständen, die oft unerträglich werden, reagieren sie mit den Mitteln, die sie finden und die von gewerkschaftlichen Kämpfen und Streiks bis hin zu Demonstrationen und Zusammenstößen mit Polizei und Armee reichen. Doch trotz dieser Kampfbereitschaft gehen die Ziele, die im Laufe dieser Kämpfe in den Vordergrund gerückt werden, nie über demokratische und soziale Forderungen hinaus, die weder das kapitalistische System noch die imperialistische Ordnung in Frage stellen.

Die Führungen, die an der Spitze dieser Bewegungen auftauchten, waren sehr unterschiedlich. Im Sudan stehen dort Seite an Seite eine islamistische Partei und eine kommunistische Partei stalinistischer Tradition, die jede Perspektive einer unabhängigen Politik der Arbeiterklasse aufgegeben hat. In Haiti kann man sogar beobachten, wie die Anführer bewaffneter Banden versuchen, die Führung in den Protesten gegen die politische Macht zu übernehmen. Jedenfalls handelte es sich nirgends um revolutionäre Führungen, sondern um kleinbürgerliche, reformistische oder/und nationalistische, wenn nicht gar religiöse Führungen, die an der Schwelle des Privateigentums Halt machten. Keine von ihnen dachte daran, aus dem Rahmen des bürgerlichen Systems, der bestehenden Nationalstaaten und der vom Imperialismus aufgezwungenen Aufteilung der Welt auszubrechen. Das ist die Grenze dieser Bewegungen und erklärt oftmals auch, warum diese sich meist schnell in einer Sackgasse wiederfinden: Der marode Kapitalismus kann weder echte soziale Fortschritte zugestehen noch kann er sein Herrschaftssystem lockern, für das die Aufrechterhaltung von Diktaturen oder autoritären Regierungen unverzichtbar ist.

Was also fehlt, ist eine weltweite revolutionäre, proletarische und kommunistische Partei: die revolutionäre Führung des Proletariats, die die Bolschewiki mit der Schaffung der Kommunistischen Internationale begründen wollten. Wie kämpferisch die Massen auch sein mögen, diese Führung kann nicht spontan im Laufe ihrer Kämpfe entstehen. Die Beendigung des imperialistischen Systems, das die Herrschaftsform des Finanzkapitals ist, erfordert die Niederschlagung der Bourgeoisie, der Staaten, die ihr dienen, und der künstlichen Grenzen, die sie zwischen den Völkern aufrechterhalten. Das erfordert eine Politik in diese Richtung und kann nur das Werk des internationalen Proletariats sein, wenn es sich mit einem Programm bewaffnet, das die Lehren aus all seinen bisherigen Erfahrungen gezogen hat.

Dies zu betonen bedeutet zu bekräftigen, wie notwendig es ist, revolutionäre Parteien auf der Grundlage des trotzkistischen Programms aufzubauen und in der Arbeiterklasse zu verankern, sowie eine Internationale, die wirklich die Weltpartei der Revolution ist.

 

13. Oktober 2022