Großbritannien: der schlimmste Angriff auf die Lebensbedingungen seit 25 Jahren (aus Class Struggle - GB vom Herbst 2021)

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Großbritannien: der schlimmste Angriff auf die Lebensbedingungen seit 25 Jahren
Oktober 2021

Großbritannien: der schlimmste Angriff auf die Lebensbedingungen seit 25 Jahren

 

Dieser Text ist ein leicht bearbeiteter Artikel aus der trotzkistischen Zeitschrift Class Struggle (Nr. 113, Herbst 2021), die von unseren Genossen von Workers'Fight (Großbritannien) herausgegeben wird.

 

Als wir mit dem Schreiben dieses Artikels fertig waren, wurde das Land von einem neuen Mangel heimgesucht. Panzerfahrende Soldaten wurden mobilisiert, um Treibstoff an Tankstellen zu liefern, denen das Benzin ausgegangen war. In der Woche zuvor hatte die Regierung zugegeben, dass es ein „Problem in der Lieferkette“ gab und viele Produkte aus den Regalen der Supermärkte verschwunden waren. Von einem Tag auf den anderen waren die Zapfsäulen der Tankstellen ganz oder teilweise leer, während die Minister allen versicherten, dass es keinen Mangel gebe. Die Raffinerien und die Lager seien an ihrer „maximalen Kapazität“! Nein, erklärten sie, das Problem liege daran, dass es nicht genügend qualifizierte Lkw-Fahrer gebe, um alle Tankstellen im Land zu beliefern. Und wenn das Benzin oder der Diesel knapp geworden seien, sei das allein die Schuld der Autofahrer und ihres Ansturms auf die Tankstellen gewesen!

Die Beschleunigung der Krise war für alle offensichtlich, allein schon angesichts all der Haushaltshilfen, Pflegekräfte in Krankenhäusern oder Altenheimen, die nicht mehr zur Arbeit kommen konnten. Aber alles, was die Minister im Fernsehen zu sagen hatten, war, dass die Bevölkerung „sich beruhigen“ müsse. Sie wiederholten bis zum Überdruss, dass es keine Treibstoffknappheit gebe. Diese war jedoch sehr real und traf die Arbeitenden, die am wenigsten ohne Treibstoff auskommen konnten. Die Regierungserklärungen erregten den Zorn der Arbeitenden, die auf ihr Auto, ihren Lieferwagen oder ihren Lastwagen angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Minister waren offensichtlich auf einem anderen Planeten. Und im Gegensatz zu den Behauptungen so vieler Journalisten hatte die Situation nichts mit dem Ansturm auf das Toilettenpapier während der ersten Welle der Pandemie zu tun. Wenn die Pumpen an den Tankstellen aus irgendeinem Grund versiegen, müssen sofort Notfallmaßnahmen ergriffen werden. Das wurde nicht getan. Als der Verkehrsminister Grant Shapps zu Beginn der Krise gefragt wurde, was denn los sei, antwortete er schlicht und einfach: „Schuld ist das Coronavirus!“ Er und seine Ministerkollegen gaben sich alle Mühe, keinen Zusammenhang zwischen der Knappheit und dem Brexit zuzugeben.

Eine direktere Erklärung lieferte der SPD-Vorsitzende Olaf Scholz, der am Tag nach den deutschen Wahlen zu diesem Thema interviewt wurde. Ein Reporter des Fernsehsenders Channel 4 fragte ihn, ob Deutschland Großbritannien aushelfen könne, indem es Fahrer dorthin entsende. Daraufhin antwortete Scholz, dass seit dem Brexit die Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern behindert sei und dass dies daher, sorry, nicht möglich sein werde ... Scholz deutete auch an, dass niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen nicht ganz unschuldig an dem Problem seien. Es ist eine Tatsache, dass die Raststätten in Großbritannien schlechter ausgestattet sind als in einigen EU-Ländern, was ein weiterer Grund dafür ist, sich nicht dem Gewerbe zuzuwenden.

Nach Angaben der Fuhrunternehmerverbände waren bereits vor der Pandemie rund 60.000 Stellen für Lkw-Fahrer unbesetzt, was de facto seit Jahren ein Problem war. Auch der Brexit zeigte seine Wirkung und führte dazu, dass 16.000 europäische Fahrer in ihre Heimatländer zurückkehrten. Zum jetzigen Zeitpunkt, nach 20 Monaten Pandemie, wird die Zahl der Lkw-Fahrer, die in die EU zurückgekehrt sind, auf 26.000 geschätzt, und es gibt fast 100.000 unbesetzte Stellen. Die Reaktion der Regierung auf den Mangel wurde mit dem Versuch verglichen, ein Feuer mit einem Glas Wasser zu löschen. Im Einzelhandel und bei den Truthahnzüchtern wurde bereits davor gewarnt, dass die Weihnachtsfeierlichkeiten aufgrund des Mangels an Fahrern und Arbeitern in der Lebensmittelindustrie abgesagt werden könnten. Die Regierung bietet 5.000 befristete Visa an, um zu versuchen, europäische Fahrer zurückzugewinnen, und weitere 5.500 für die Schlachthöfe. Diese Visa werden jedoch nicht länger als 90 Tage gültig sein, was bedeutet, dass man Großbritannien am Weihnachtsabend verlassen muss! Es ist verständlich, dass es keinen Ansturm auf diese Visa gibt...

 

Ausbeutung der Ärmsten

Der ganze Zirkus wäre zum Lachen, wenn die Knappheit nicht ein weiteres Element in einer chronischen Wirtschaftskrise wäre, die durch den Brexit und die Pandemie noch verschärft wurde – einer Krise, die lebenswichtige öffentliche Dienstleistungen (einschließlich des Gesundheitssystems NHS - National Health Service) untergräbt und die Lebenshaltungskosten für die Arbeiterklasse in einem Ausmaß in die Höhe treibt, das über das hinausgeht, was 2008 zu beobachten war. Hinzu kommt, dass alle möglichen lebenswichtigen Gütern aus den Regalen verschwunden sind.

Unternehmer in so gut wie allen Branchen (Landwirtschaft, Pflegedienste, Gesundheitswesen, Einzelhandel, Gastgewerbe usw.) klagen über ihre Schwierigkeiten, Personal zu finden. Obst und Gemüse verfaulten in Obstgärten und auf Feldern, weil es keine Wanderarbeiter gab, die es ernten konnten. Diese werden in der Regel mit Zeitverträgen zu Hungerlöhnen eingestellt. Die fehlenden Arbeitskräfte sind eine direkte Folge der durch den Brexit verursachten strengeren Einwanderungsgesetze.

Überraschenderweise war es die Financial Times, das Sprachrohr der Bosse in der City, die kürzlich die Bedingungen für diese Arbeitenden öffentlich machte. Sie enthüllte, dass diese Arbeitenden „weit entfernt von der von der EU postulierten Freizügigkeit in der Regel an einen bestimmten Arbeitgeber oder Personalvermittler gebunden sind, was es für sie schwierig macht, sie zu verlassen, wenn sie schlecht behandelt werden“. Der Artikel fährt fort: „Die Pläne der Regierung drohen Löhne und Arbeitsbedingungen weiter nach unten drücken und gleichzeitig die Abhängigkeit der Arbeitgeber von den Migranten aufrechtzuerhalten.“ Er zitiert eine Studie des US Economic Policy Institute über Arbeitsmigranten: „In der Geschichte gab es noch nie das Szenario, dass ein vorübergehender Arbeitskräftemangeldurch einen vorübergehenden Rückgriff auf Arbeitsmigranten behoben wird und die Unternehmen anschließend wieder anfangen, einheimische Arbeitskräfte einzustellen. [...] Wie Migrationsexperten wissen, gibt es nichts Dauerhafteres als ein zeitlich begrenztes Migrationsprogramm.“

Um speziell das Problem des Obst- und Gemüsepflückens in der Vorweihnachtszeit anzugehen (damit auch Rosenkohl auf dem Speiseplan stehen kann!), wurde ein spezielles Pilotprogramm eröffnet, das Arbeitsmigranten aus Europa und anderen Ländern Visa anbietet. Es wurde gerade von 2.500 auf 30.000 Arbeiter ausgeweitet. Die Autorin des Financial Times-Berichts, Sarah O'Connor, wirft der Regierung vor, den Mangel an Arbeitskräften in den verschiedenen Sektoren nicht vorhergesehen zu haben. Sie zitiert den Chef einer Zeitarbeitsfirma, der ihr sagte: „Wir würden ohne die Osteuropäer nicht essen“. Und sie betont, dass nach dem EU-Referendum 2016 klar war, dass der Wegfall der „Niedriglohnzuwanderung“, die sich ohne Visa frei bewegen kann, die Landwirte und insbesondere die Unternehmen in der Lebensmittelindustrie, in Schlachthöfen und im Gastgewerbe treffen würde.

Die Unternehmen verließen sich darauf, diese Arbeitskräfte übermäßig auszubeuten, und nun bestand die Gefahr, dass sie Umsatzeinbußen hinnehmen müssten und ihr Unternehmen sogar bankrottgehen könnte. Laut O'Connor hätte die Lösung darin bestanden, die Löhne und Bedingungen in diesen Branchen zu verbessern, und sie schreibt: „Die Regierung hat den Brexit kurzsichtig verwaltet, anstatt zu erkennen, dass Kompromisse eingegangen und geplant werden mussten.“ Sie hat wahrscheinlich nicht unrecht, wenn sie schlussfolgert, dass es für diese Bosse jetzt darum geht, neue Wanderarbeiter zu finden, die so verzweifelt sind, dass sie befristete Visa und sklavenähnliche Bedingungen akzeptieren.

Die offiziellen Statistiken verzeichnen über eine Million unbesetzte Stellen in der gesamten Wirtschaft. Doch dabei handelt es sich vor allem um gering bezahlte Jobs in bestimmten Branchen wie Transport, Logistik, Hotel- und Gaststättengewerbe und persönliche Pflege. Jobs mit befristeten Verträgen oder Null-Stunden-Verträgen, die bislang tatsächlich meist von Arbeitenden aus der EU besetzt wurden. Die Bosse sind offenbar so besorgt, dass sie noch mehr befristete Visa fordern, um ausländische Arbeiter einzustellen. Auch der größte Unternehmerverband, der Verband der britischen Industrie (CBI), steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch, weil er den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften als „Bedrohung für die britische Wettbewerbsfähigkeit“ ansieht. Nun, dann sollten die Unternehmer auf den konservativen Premierminister Boris Johnson und seinen Slogan „Get Brexit Done“ („Machen wir den Brexit wahr“) schimpfen.

 

Das Gesetz von Angebot und Nachfrage außer Kraft gesetzt?

Interessanterweise hatte der Mangel an Arbeitskräften kaum Auswirkungen auf die Löhne. Man hätte erwarten können, dass diese angesichts des Mangels an Arbeitskräften steigen würden. Dennoch kämpfen die Beschäftigten des NHS immer noch für eine höhere Lohnerhöhung als die derzeit angebotenen 2% (ursprünglich wurde ihnen nur1% angeboten!), obwohl die Inflation bei 3% liegt und weiter steigt. Auch die Löhne der Eisenbahner wurden eingefroren.

Berichten zufolge könnte der Mangel an Arbeitskräften zu einem Lohnanstieg von 8 bis 10% führen. Anscheinend macht sich sogar die Bank of England Sorgen über das „alte Problem“, dass Lohnerhöhungen die Inflation in die Höhe treiben. Nur ist es genau umgekehrt: Es sind die Preissteigerungen, die die Arbeitenden dazu bringen, für mindestens gleich hohe Lohnerhöhungen zu kämpfen.

Die allermeisten Löhne sind eingefroren, was angesichts der Inflation in Wahrheit eine Lohnsenkung bedeutet. Allerdings gibt es einzelne Ausnahmen. Beispielsweise versprechen einige Supermärkte und inzwischen auch einige Kraftstofflieferanten ihren Beschäftigten ein Jahresgehalt von 60.000 Pfund (71.000 Euro) oder mehr. Sozialarbeitern werden Prämien angeboten, um zu verhindern, dass sie von Konkurrenten eingestellt werden. Auch im Baugewerbe werden höhere Löhne gezahlt, vor allem für Maurer und Installateure.

Obwohl das Nationale Statistikamt (ONS) das jährliche Wachstum des Durchschnittslohns zwischen März und Juni auf 7,4% (inflationsbereinigt auf 5,2%) schätzte, war das Wachstum der Reallöhne geringer: zwischen 3,5 und 4,9%. Die Bank of England stellte ein noch langsameres Wachstum fest, das im selben Zeitraum knapp über 3% lag. Laut der Resolution Foundation, einer Denkfabrik, die vorgibt, sich der „Verbesserung des Lebensstandards von Haushalten mit niedrigem und mittlerem Einkommen“ zu widmen, war dieses Wachstum „stärker als das mickrige Lohnwachstum in der Zeit nach der Finanzkrise von 2008, in der die Löhne kaum über der Inflation lagen“. Das mag stimmen. Aber für die meisten Arbeitenden lagen die angebotenen Lohnerhöhungen bei den Tarifverhandlungen nicht über 2%, und das auch nur für die Glücklichsten unter ihnen.

So sagte Adrian Jones, der nationale Leiter der Gewerkschaft Unitethe Union für den Straßentransport und die Lkw-Fahrer, dass die Arbeitgeber selbst in dieser Branche keine dauerhaften Lohnerhöhungen, sondern nur Sonderprämien anbieten. Viele kauften mehr Kleintransporter, um sowohl den Mangel an Fahrern als auch die erheblichen Verzögerungen bei der Erteilung von Lkw-Führerscheinen auszugleichen. In diesem Umfeld, das Anreize für Neueinstellungen bietet, können neue Mitarbeiter paradoxerweise mehr Geld erhalten als langjährige Beschäftigte, was Jones zufolge zu Streikdrohungen geführt hat.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Bedingungen für Lkw-Fahrer verbessern, ganz im Gegenteil. Jones erklärt: „Einer unserer Gewerkschaftsmitglieder sah eine Anzeige für eine Stelle als Fahrer, in der ein Jahresgehalt von 62.000 Pfund (73.000 Euro) angeboten wurde. Er bewarb sich und es stellte sich heraus, dass man, um dieses Gehalt zu bekommen, nachts und an den Wochenenden nonstop arbeiten musste, ohne auch nur eine Minute zu pausieren. Um ein solches Gehalt zu bekommen, muss man bereit sein, alles zu tun und grenzwertig gesetzlos zu sein“.

Im Moment haben die Krankenschwestern und Eisenbahner also ein gemeinsames Anliegen mit vielen anderen Arbeitenden im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft zu verteidigen. Denn fast allen wird ihr Gehalt eingefroren. Und selbst im Rahmen von Tarifverhandlungen werden ihnen nur Erhöhungen angeboten, die unter der Inflationsrate liegen. Bisher haben ihre Gewerkschaftsführer noch keine Vorschläge für gemeinsame Aktionen einer Branche oder gar einen branchenübergreifenden Streik gemacht. Das ist sicherlich keine Überraschung. Aber es wäre dennoch die einzige Möglichkeit, Fortschritte zu erzielen.

 

Der Energiemarkt: ein Casino

Laut der staatlichen Energieregulierungsbehörde Ofgem und den Ministern ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage der Grund für den Anstieg der Energiepreise: Da die Pandemie abgeklungen ist und mehr Energie benötigt wird [...], wären die Preise gestiegen. Es ist nicht zu leugnen, dass die Gasproduzenten die Gelegenheit genutzt haben, um ein Vermögen zu machen: Die Preise haben sich seit August 2020 vervierfacht. Es liegt natürlich im Interesse der Energiekapitalisten, eine Knappheit auszunutzen, um die Preise in die Höhe zu treiben. Dennoch ist trotz all derer, die eine Rückkehr des Kalten Krieges heraufbeschwören, die russische Gazprom nicht für das Versorgungsproblem verantwortlich.

In Großbritannien wird das Problem durch einen hypertrophen, chaotischen und unregulierten Energiemarkt verstärkt, der vor 35 Jahren aufgrund der Privatisierung entstanden ist. Noch vor zehn Jahren wurde die Strom- und Gasversorgung von den „Großen Sechs“ British Gas, EDF Energy, Eon UK, Npower, ScottishPower und SSE beherrscht, die riesigen Gewinne erzielten, ihren Managern hohe Boni zahlten und die Energiepreise für die Haushalte rasant in die Höhe trieben. Dies führte zu einer breiten Unzufriedenheit. Die Regierung lockerte daher den bestehenden dünnen Regulierungsrahmen und die Zahl der Anbieter für Privatkunden stieg von 12 im Jahr 2010 auf 70 im Jahr 2018. Diese Maßnahme sollte, so die Befürworter des freien Marktes, zu niedrigeren Preisen führen.

Großbritannien rühmte sich damals, „die am stärksten liberalisierten Märkte der Welt“ zu haben. Doch die Preise stiegen weiter. Einige Unternehmen vereinbarten, dass sie hoch blieben, auch wenn andere die Vertragspreise so lange unterboten, bis die ehemaligen „Großen Sechs“ ihr Monopol auf dem Land verloren. Doch eine Reihe der 70 neuen Anbieter gingen 2018-2019 in Konkurs. Daher wurden neue Regeln eingeführt, um diese Geschäftemacher vor sich selbst zu schützen, indem sie daran gehindert wurden, mit Verlust zu verkaufen. Die 2019 eingeführte Preisgrenzen, die ebenfalls die Verbraucher vor explodierenden Preisen schützen sollte, wurde von den Energiekapitalisten und einigen konservativen Parlamentariern natürlich als „unangemessene Behinderung des freien Wettbewerbs“ angesehen.

Im März dieses Jahres gab es noch 49 Anbieter aller Größenordnungen. Aber nur die größten hatten die Mittel, ihr Spiel angesichts der schwindelerregenden Preissteigerungen angemessen „abzusichern“. Denn bei einem Gaspreis, der seit Januar um 250% gestiegen war, verfügen nicht alle Unternehmen über genügend Kapital, um die versprochenen Lieferungen zu gewährleisten. [...] Wie der Chef von Green, einem Neuling in der Branche, bemerkte, behandeln seine Kollegen den Energiemarkt wie ein Casino. Seit Mitte September sind bereits zehn der kleinsten Spieler in die Knie gezwungen.

Aber egal, ob die Regierung eingreift, damit dieser Gauner-Markt weitergeht, ob Ofgem Kunden zu British Gas oder anderen großen Unternehmen transferiert oder als Lieferant der letzten Instanz fungiert, die Deckelung der Energiepreise wird aufgehoben und die Rechnungen werden steigen: im Durchschnitt um 139 Pfund Sterling (oder 164 Euro) in diesem Monat und um 17% im nächsten Jahr.

Der Wechsel der Kunden von bankrotten Unternehmen zu solideren Unternehmen ist jedoch nicht kostenlos. So unglaublich es auch klingen mag, es gibt eine Vereinbarung mit den Gasunternehmen, nach der alle Energieverbraucher an den Kosten beteiligt werden, die den großen Unternehmen durch das Aufkaufen der Kunden von bankrotten Unternehmen entstehen. Dies könnte die Rechnung jedes Haushalts um weitere 90 Pfund (106 Euro pro Jahr) oder mehr erhöhen, je nachdem, wie viele Unternehmen in Konkurs gehen. Mit anderen Worten: Die Kunden bürgen für ihre Lieferanten, diese Geschäftemacher, die ihnen in die Taschen gegriffen haben! Und das ist noch nicht alles. Dieselben Geschäftemacher werden so versorgt, dass sie kein Risiko tragen und keinen Cent verlieren.

Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Peston formulierte es wie folgt: „Im Rahmen des Mechanismus, derKunden von bankrotten Energieunternehmen schützt, indem er garantiert, dass ein anderer Anbieter einspringt und sie mit Energie beliefert, kostet jeder dieser Kunden das rettende Unternehmen etwa 600 Pfund (709 Euro) – eine Summe, die es über 15 bis 24 Monate von allen Energiekunden des Landes einfordern darf. Mit anderen Worten: Die Kosten für die Fehler von Kunden, die Energie von schwachen Unternehmen kaufen, werden „sozialisiert“. Aber Peston irrt sich. Nicht die Fehler der Kunden sind das Problem, sondern die Tatsache, dass fragwürdige Unternehmen mit dem Segen der Regulierungsbehörde entstanden sind. Ganz zu schweigen von der seitens der Vergleichsseiten im Internet betriebenen Gehirnwäsche, die die Kunden dazu bringen soll, den Anbieter zu wechseln, um in den Genuss der niedrigsten Tarife zu kommen.

Angesichts des kleinen Aufschreis, den dieses Verrechnungssystem dennoch ausgelöst hat, hat das Finanzministerium einen Rettungsplan für diese Zocker und Betrüger aufgestellt. Aber die Kunden werden weiterhin zahlen. Die Abbuchungen werden lediglich über mehrere Jahre gestreckt.

Der ehemalige Ofgem-Chef Dermot Nolan, der die Energieregulierungsbehörde von 2014 bis Februar 2020 leitete, sagte: Wenn er davon gewusst hätte, hätte er „früher strengere Lizenzbedingungen“ für bestehende und neue Versorger durchgesetzt. Dieses Eingeständnis hat es in sich, kommt es doch von demjenigen, der an der Spitze der übermäßigen Liberalisierung stand.

Wie kann diese Situation behoben werden? Natürlich sollten grundlegende Dienstleistungen wie Gas und Strom unter öffentlicher Kontrolle stehen. Aber selbst wenn sie es wären, gäbe es keine Garantie für Verbesserungen. Man braucht sich nur das Gesundheitssystem anzusehen, um sich davon zu überzeugen. In der Tat hängt alles davon ab, welche Gesellschaftsschicht die Macht innehat. Die Untätigkeit der derzeitigen Regierung, die einfach nur zusieht, wie das Feuer sich ausbreitet, liefert weitere Argumente für die Kontrolle der Arbeitenden über die Wirtschaft.

 

Wie geht es jetzt weiter?

Der Anstieg der Lebenshaltungskosten trifft die Arbeiterklasse schon jetzt hart. Die Inflation liegt bei 3% und steigt weiter. Die Lebensmittelpreise werden laut dem Chef der Supermarktkette Tesco um weitere 5% steigen. Die Preise für Benzin und Diesel, die bereits vor den aktuellen Engpässen unerschwinglich waren, werden weiter steigen. Außerdem beginnt, während am 30. September die von der britischen Regierung eingeführte vorteilhaftere Kurzarbeitsregelung ausläuft, ein neuer Angriff: Am 1. Oktober wird die Preisobergrenze für Gas und Strom von 1.150 Pfund (1.355 Euro) auf 1.277 Pfund (1.504 Euro) angehoben, was einem Anstieg um 11% entspricht. Am selben Tag werden die während der Pandemie eingeführten zusätzlichen 1.000 Pfund (1.178 Euro) jährlich für die Empfänger verschiedener Sozialhilfen (Universal Credit) wieder abgeschafft.

Im April 2022 werden die Sozialversicherungsbeiträge um 1,25 % erhöht, wodurch die Löhne noch stärker belastet werden. Gleichzeitig sollen die Gas- und Strompreise um weitere 17% steigen.

Bereits vor den aktuellen Versorgungsproblemen und Kraftstoffengpässen hatte der Minister für kleine und mittlere Unternehmen, Paul Scully, gewarnt, dass angesichts der steigenden Energiekosten ein harter Winter bevorstehe und die Gefahr von Lebensmittelengpässen besorgniserregend sei.

Als eine BBC-Reporterin Johnson fragte, wie die Menschen ihre Familien ernähren sollen, sagte er, dass jeder, der „es schwer hat“, sich einen besseren Job suchen und mehr arbeiten sollte. Die meisten Arbeitenden, die den Mindestlohn verdienen (den die Regierung die Frechheit hat, „nationalen Lohn zur Sicherung des Lebensunterhalts“ zu nennen), sind auf den Universalkredit (also ergänzende Sozialleistungen) angewiesen, um ihr miserables Einkommen aufzubessern. Ihn zu verlieren, bedeutet unterzugehen.

Es versteht sich von selbst, dass die „wirtschaftliche Erholung“ nach dem Lockdown und der Mangel an Arbeitskräften das Angebot an Arbeitsplätzen und die Löhne nicht verbessert haben, ganz im Gegenteil. Bei den Eisenbahnen beispielsweise werden reihenweise Stellen abgebaut, um den großen Start ihrer wiedererfundenen Privatisierung vorzubereiten - was die Regierung als Great British Railways bezeichnet. Und den Eisenbahnern wird die Rechnung in Form von abgebauten Arbeitsplätzen und Löhnen präsentiert.

Aber die Arbeiter bleiben nicht untätig. So forderten die Techniker von Abellio Scotrail neben vielen anderen „systemrelevanten“ Arbeitenden, die während der gesamten Pandemie gearbeitet hatten, eine Lohnerhöhung. Sie lehnen Überstunden ab und bereiten ihre Forderungen vor, ohne bislang in einen Streik zu treten. Die Busfahrer und Reinigungskräfte des Unternehmens Stagecoach stimmen derzeit über einen Streik ab. Das Unternehmen erzielte in diesem Jahr einen Gewinn von 58,4 Millionen Pfund (68,8 Millionen Euro), kassierte Geld aus den Rettungspaketen des Ministeriums für Industrie und Handel, hat seinen Beschäftigten aber seit zwei Jahren keine Lohnerhöhung mehr gewährt. Im Gesundheitswesen, im Transportwesen, im Einzelhandel, in der verarbeitenden Industrie, in der Lebensmittelindustrie ... überall wollen die Unternehmer durchsetzen, dass die Löhne eingefroren bleiben oder die Erhöhungen unter der Inflationsrate liegen.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben gemeinsame Interessen, die sie verteidigen müssen. Wenn sie beschließen, diese gemeinsamen Interessen in einen gemeinsamen Streik umzuwandeln, könnten sich die kleinen Streiks für Lohnerhöhungen, die verstreut im ganzen Land auftauchen, zu einer Welle entwickeln, die die Bosse nicht mehr aufhalten können.

 

29. September 2021